Chinesische Autobauer sind die großen Gewinner in Russland. Wo westliche Hersteller sich zurückziehen und Werke zurücklassen, schlagen sie zu. Auch ins ehemalige VW-Werk in Kaluga könnte die chinesische Konkurrenz demnächst einziehen.
Über einen möglichen Eintritt des chinesischen Autobauers Chery in den russischen Markt wurde bereits seit Monaten gemunkelt, jetzt wird es offenbar konkret. Wie das “Handelsblatt” unter Berufung auf Insider berichtete, verhandeln der neue Eigner des ehemaligen VW-Werks in Kaluga, die russische Händlerfirma Avilon und der chinesische Autobauer Chery über eine Kooperation. Chery könnte das seit März 2022 verlassene Werk südwestlich von Moskau demnach im Rahmen eines Joint Ventures übernehmen.
Die Konzernleitung von Volkswagen hatte das Werk nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs aufgegeben und den Verkauf im Mai diesen Jahres abgeschlossen. Über den Preis wurde Stillschweigen vereinbart, wie Volkswagen auf Anfrage von ntv.de mitteilte. Die in russischen Medien genannten rund 125 Millionen Euro seien nicht korrekt, hieß es. Laut Geschäftsbericht 2022 führte der Verkauf aller Anteile an der Volkswagen Group Rus LLC und ihren lokalen Tochtergesellschaften zu Abschreibungen von zwei Milliarden Euro.
Avilon, hinter dem die russische Finanzgesellschaft Art Finance steht, hat seitdem nach einem Partner gesucht, um die Fertigung wieder aufzunehmen. Chery will nach der Übernahme Limousinen unter der neuen Marke Omeda S5 produzieren, wie die “Berliner Zeitung” unter Berufung auf ein russisches Autoportal berichtete. Volkswagen hatte in dem Werk von 2007 bis März 2022 die Modelle Polo, Tiguan sowie den Kompaktwagen Skoda Rapid gebaut. Im Vorkriegsjahr 2021 rollten hier nach Konzernangaben rund 118.000 Fahrzeuge vom Band.
Für die Chinesen kommt der Deal zur rechten Zeit. Denn Chery ist zwar die meistgekaufte internationale Automarke in Russland, das Geschäft leidet jüngst aber unter deutlich angehobenen Einfuhrzöllen. Russland hat sie im August erlassen, um der inländischen Industrie zu ermöglichen, eigene Produkte herzustellen – doch die heimische Autoindustrie kann keine Wunder vollbringen. Zölle machen ausländische Fahrzeuge für russische Käufer deutlich teurer. Chery hatte bislang keine eigene Fabrik in Russland. Mit der ehemaligen VW-Fabrik wäre der chinesische Autobauer demnach im Vorteil. Angeblich redet das Unternehmen gleichzeitig mit anderen Eigentümern von Autofabriken, die westliche Hersteller wegen des Ukraine-Kriegs verkauft oder verlassen haben. Auch BMW, Mercedes, Renault und Hyundai hatten nach Kriegsausbruch die Produktion in Russland gestoppt und das Land verlassen.
Experten zufolge lässt sich ein deutlicher Trend erkennen: Chinesische Firmen stoßen systematisch in die Lücken vor, die auf dem russischen Markt durch den Exodus von Autoherstellern entstanden sind. Aktuelle Daten des chinesischen Herstellerverbands CAAM (China Association of Automobile) belegen, wie stark chinesische Autobauer dieses Jahr in Russland gewachsen sind. Russland ist zum größten Abnehmer chinesischer Autos geworden. Den russischen Kuchen teilen sich mittlerweile wenige heimische (Avto/Lada und GAZGroup) mit sehr vielen chinesischen Autobauern. “Der russische Markt war sehr fragmentiert”, sagt der China-Experte Gregor Sebastian vom Merics-Institut in Berlin (Mercator Institute for China Studies) ntv.de. “Jetzt wird er zwischen China und Russland aufgeteilt.”
Die Gewinner stehen fest: Allein Chery verbuchte laut Daten des Informationsdienstes Marklines von Januar bis Juli 2023 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum bei den Neuzulassungen in Russland einen Anstieg von knapp 300 Prozent, Great Wall Motor, ebenfalls einer der größeren, aufstrebenden Autohersteller der Volksrepublik, verbesserte sich in ähnlicher Größenordnung. Die Verkäufe von VW, Mercedes, Toyota, BMW oder auch Toyota sanken dagegen gen null.
Chery bereitet auch Deutschland-Start vor
Die Invasion von chinesischen Autobauern in Russland wirft die Frage auf, was der Trend für das Wettrennen um die Vorherrschaft auf dem globalen Automarkt bedeutet. Chery ist bislang auf Schwellenländer fokussiert und produziert hauptsächlich Benziner, bei Elektromodellen ist der Autobauer eher unbedeutend. Trotzdem erwartet Merics-Experte Sebastian, dass mit dem Wachstum auf dem russischen Markt – und gegebenenfalls später auch in Anrainerstaaten die Kassen klingeln werden. Damit könnte auch die Entwicklung neuer E-Modelle vorangetrieben werden, sagt Sebastian im Gespräch mit ntv.de. “Der russische Hersteller Lada kann nicht alle Fabriken übernehmen. Für Chery oder Wall Motors bietet sich damit die Riesenchance, über den russischen Markt mehr Profite zu generieren und damit im Automarkt aufzuholen.”
Tatsächlich ist Chery auch hierzulande kein unbekannter mehr. Der Autobauer betreibt seit mehreren Jahren in Raunheim bei Frankfurt ein Design- und Entwicklungszentrum. Der Markteintritt mehrerer Modelle ist ab Ende 2024 geplant. Dann sollen gleich drei Autos in Deutschland auf den Markt kommen.
“Dass die Chinesen die Russland-Lücke nutzen, ist seit Beginn des Ukraine-Kriegs klar. Die Spatzen haben es von den Dächern gepfiffen”, sagt Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer vom CAR-Center Automotive Research ntv.de. Ob es Chery gelingt, mit dem Coup tatsächlich in hochwertigere Modelle zu investieren und möglicherweise weiter nach Westeuropa zu expandieren, hält er jedoch für schwierig. “Chery passt zu den Einfach-Autos in Russland. Es besteht das ganz große Risiko, dass Chery zwar ein Werk in Russland hat, aber mit seinen Russland-Autos wohl kaum in die EU kommt. Kaluga sieht auf den ersten Blick wie ein Schnäppchen aus, aber Autos, die man nur in Russland oder Belarus verkaufen kann, sind nur die halbe Miete.”
“Raub westlicher Vermögenswerte bleibt ungeahndet”
Der russische Ökonom Vladislav Inozemtsev beobachtet die Entwicklungen kritischer. Europa sei nicht nur “eine der größten Expansionsmöglichkeiten” für Chery und Russland der Erfüllungsgehilfe. Die Russland-Sanktionen würden auch unterwandert, wenn Drittstaaten wie China diese aushebelten und die Versorgung der Bevölkerung mit Autos sicherten.
Von Januar bis Ende Juli wurden auf dem russischen Markt eine halbe Million Fahrzeuge verkauft. Damit ist zwar noch nicht ganz das Niveau vor Kriegsbeginn und Pandemie erreicht, es ist aber doch eine deutliche Erholung zum Vorjahr. “Die russische Autoproduktion war eigentlich nicht-existent. Deshalb haben die Russen die Chinesen ermutigt, einzuspringen”, kritisiert der Ökonom im Gespräch mit ntv.de. Und die Europäer täten nichts, “um Vergeltung zu üben”. Die eigentliche Idee der Sanktionen sei, dem Land Autos oder andere wichtige Teile vorzuenthalten, vom Nachschub abzuschneiden. Dass Chinesen nun trotz Russland-Sanktionen westliche Vermögenswerte aufkauften, nennt er einen “riesigen Dammbruch”. “Vorher hat niemand ein Interesse an den Vermögenswerten gezeigt.” Inozemtsev geht davon aus, dass sich dies nun ändern wird.
Dass Russland Vermögenswerte westlicher Unternehmen sehr billig eingesammelt oder für einen symbolischen Preis “gestohlen” habe, wie Inozemtsev es nennt, ist für ihn ebenfalls inakzeptabel. Laut Interfax hat VW Kaluga für umgerechnet 125 Millionen Euro verkauft. “Volkswagen hat in Kaluga 850 Millionen Euro in ein modernes Werk investiert. Und die Russen boten einen Kaufpreis von 125 Millionen Dollar, das ist ein Rabatt von 80 Prozent.” Schlimmer erging es Renault. Der französische Autobauer musste seine Mehrheitsbeteiligung an dem von ihm in Moskau errichteten Werk für einen symbolischen Dollar an die Moskauer Stadtregierung abtreten. Die Fabrik verlassen nun Fahrzeuge der alten russischen Marke “Moskwitsch”. Für Design und Motor sind chinesische Hersteller zuständig. “Was heute in Russland passiert, kann mit Sicherheit als der größte Raubüberfall auf ausländische Investoren in der gesamten bekannten Geschichte bezeichnet werden”, schrieb Inozemtsev in einem Essay bereits im März.
“Es ist blöd gelaufen”, sagt Sebastian. “Denn die westlichen Konzerne haben jetzt nicht mehr die Profite aus Russland, sondern die chinesischen Hersteller. Eigentlich hat man sich damit ein Loch gegraben.” Das sei aber immer das Problem mit Sanktionen, ergänt er. Unterm Strich ist für den China-Experten der Rückzug deutscher Hersteller aus Russland “ein Verlust, aber kein Genickbruch”. Wie der VW-Konzern auf Anfrage von ntv.de noch wissen ließ, gibt es keine Pläne für eine Rückkehr nach Russland – auch nicht in ein Russland nach oder ohne Kreml-Chef Putin.