Ab heute greifen die Preisbremsen für Gas und Strom – und zwar rückwirkend. Im Interview erklärt der einflussreiche Ökonom und Energieexperte Südekum, was an dem Vorwurf dran ist, die Maßnahme halte die Preise hoch, und vor welcher gefährlichen Versuchung Versorger stehen.
ntv.de: Als die Regierung im vergangenen Herbst die Gas- und Strompreisbremse beschlossen, hat, waren die Energiepreise außer Kontrolle. Zuletzt sind die Großhandelspreise wieder deutlich gesunken. Brauchen wir die Bremse überhaupt noch?
Jens Südekum: Das Schöne an der Preisbremse ist, dass sie sich selbst abschafft, wenn sie nicht mehr notwendig ist. Das ist aktuell der Fall. Wenn wir gucken, was im Durchschnitt ein neuer Vertrag für Strom und für Gas kostet, dann sind das bei Strom 36 Cent pro Kilowattstunde Arbeitspreis und bei Gas 11, 2 Cent. Das ist geringer als die Deckel, die bei 40 Cent für Strom und 12 Cent für Gas liegen. Jemand, der heute in der Lage ist, neue Verträge abzuschließen, der profitiert von den Preisbremsen gar nicht mehr. Das bedeutet aber nicht, dass die Bremsen völlig überflüssig geworden sind.
Schließlich gibt es ja noch genug Kunden mit alten Verträgen.
Jens Südekum ist Professor für Internationale Volkswirtschaftslehre am Düsseldorfer Institut für Wettbewerbsökonomie (DICE) an der Heinrich-Heine-Universität.
(Foto: imago images/IPON)
Genau. Für die greifen die Preisbremsen natürlich dann ab heute rückwirkend bis Januar. Insofern ist die Preisbremse für viele noch relevant. Sollten sich die aktuellen Preisentwicklungen so fortsetzen, sollten die Preise also auch in den kommenden Wochen weiter sinken, dann werden die Preisbremsen peu à peu immer irrelevanter.
Für Kritik sorgte, dass viele Versorger ihre Preise in den vergangenen Wochen und Monaten sogar erhöht haben. Der Vorwurf: Energieunternehmen bereichern sich. Ist die Preisbremse vielleicht sogar schädlich?
Nein, schädlich ist sie nicht. Im Gegenteil. Der Beschluss ist im September vergangenen Jahres auf dem Höhepunkt der Energiekrise gefallen. Damals stand der Neukundenpreis für Gas bei über 50 Cent und bei Strom bei über 70 Cent. Das waren dramatische Zeiten damals. Im vergangenen Jahr war es essenziell, dass die Bundesregierung Ruhe in die akute Krise bringt. Schließen haben etliche Unternehmen vor einer Deindustrialisierung gewarnt. Sie haben befürchtet, dass sie zu solchen Preisen nicht produzieren können. Auch viele Haushalte wussten nicht, wie sie solche Preise jemals bezahlen sollen. Deswegen war es damals richtig, die Preisbremsen zu verabschieden.
Der europäische Gaspreis ist momentan so niedrig wie seit anderthalb Jahren nicht mehr, aber Verbraucher bekommen davon nichts mit. Der Vorwurf: Die Preisbremse hält die Preise hoch. Stimmt das?
Die Gefahr ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Wir müssen aber festhalten: Die Preise sind für die Endverbraucher gesunken. Das, was wir an den Börsen sehen, wird tatsächlich auch weitergegeben. Allerdings wissen Versorger um die Existenz der Preisbremsen und können kalkulieren. Wenn Versorger jetzt die Preise nach oben schieben, müssen das die Kunden nicht zwangsläufig sofort bemerken. Bei ihnen kommt ja an: Die 12 Cent für Gas sind für 80 Prozent des Vorjahreskontingents garantiert. Wenn die Versorger den Preis jetzt höher als auf 12 Cent drehen, dann kommt das nicht unmittelbar bei den Kunden an, denn die Differenz wird ja vom Staat ausgeglichen. Für die Versorger ist das ein gefährliches Spiel.
Wieso?
Die Bundesregierung hat das Kartellamt mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet. Normalerweise müsste das Kartellamt Versorgern solche unanständigen und wettbewerbswidrigen Preiserhöhungen nachweisen. Die Bundesregierung hat allerdings die Beweislast umgedreht. Das Kartellamt kann jetzt stichprobenartig tätig werden, wenn Preiserhöhungen auffallen und kann dann die Versorger auffordern, das zu begründen. Natürlich ist es möglich, dass Preiserhöhungen insofern gerechtfertigt sind, weil sie selber noch höhere Beschaffungskosten haben. Viele Versorger beziehen ihr Gas nicht am Spotmarkt und profitieren deswegen auch nicht von den aktuell niedrigen Preisen, sondern haben sich vor einigen Monaten schon mit Terminkontrakten eingedeckt – damals noch zu höheren Preisen. Aus heutiger Sicht war das ein Fehler, aber vor einigen Monaten war das natürlich noch nicht absehbar. Die Preise hätten sich ja auch in die andere Richtung entwickeln können. Eine Preiserhöhung kann im Einzelfall bei Kunden also gerechtfertigt sein. Dafür kann das Kartellamt einen Nachweis einfordern. Sollte dieser nicht gelingen, setzt sich ein Versorger, der versucht faule Tricks anzuwenden, einem echten Risiko aus. Wettbewerbswidrige Preiserhöhungen, die nicht gedeckt sind, ziehen Strafen nach sich.
Für die Strom- und Gaspreisbremse wurden 100 Millionen Euro veranschlagt. Dadurch, dass die Preisbremsen nicht mehr greifen, wird es für den Bund viel billiger. Was soll mit dem Geld jetzt passieren?
Schätzungen gehen momentan davon aus, dass die Kosten für den Bund nur noch einstellig werden. Es ist von sieben Milliarden die Rede. Technisch gesprochen: Der Bundestag hat dem Wirtschaftsstabilisierungsfond eine Kreditermächtigung erteilt. Die muss nicht sofort gezogen werden. Aus meiner Sicht könnte man sie halten, um gegebenenfalls gewappnet zu sein, falls die Krise zurückkommen sollte. Ich würde sie auf lange Frist – vielleicht bis 2030 – in der Hinterhand behalten, um die Preisbremse im Notfall zu reaktivieren. Das kostet den Bund und den Steuerzahler kein Geld.
Mit Jens Südekum sprach Juliane Kipper