Früher haben Kunden in China ihre in die Jahre gekommenen deutschen Autos recht zuverlässig durch neue deutsche Autos ersetzt. Doch inzwischen haben sich die Ansprüche, gerade an ein E-Auto, geändert. Junge Chinesen suchen nicht nach traditionsreichen Marken, sondern nach einem smarten Gerät.
Ein schwüler Juni-Nachmittag neigt sich dem Ende zu, als die deutsche Autoindustrie in China einen Kunden verliert. Herr Cao, dem sein BMW zu eng geworden ist, hat seine Frau, seinen vierjährigen Sohn und seine alte Mutter in den X5 gepackt und ist ins Stadtzentrum von Shanghai gefahren. Dort steht der Familienvater nun in einem klimatisierten Showroom des chinesischen E-Wagenherstellers Li Auto und hat nur noch eine Entscheidung zu treffen: Nimmt er den voluminösen Standard-SUV – oder lieber gleich den dreireihigen Sechssitzer?
Es gab Zeiten, da ersetzten Kunden in China ihre angejahrten deutschen Autos recht zuverlässig durch neue deutsche Autos. Vorbei. Ein staatlich forcierter Schwenk in Richtung E-Mobilität hat in den vergangenen Jahren den wichtigsten Automarkt der Welt umgekrempelt. Junge Startup-Hersteller wie BYD, Nio oder Li Auto, deren Namen im Westen noch wenig Widerhall haben, drängen ihre ausländische Konkurrenz rasant ins Abseits. VW etwa, unter den Verbrennerherstellern lange der unangefochtene Platzhirsch in China, kommt bei E-Autos nur auf wenig mehr als zwei Prozent Marktanteil – während der chinesische Marktführer BYD von seinen E- und Hybridmodellen inzwischen weltweit mehr verkauft als der US-Konkurrent Tesla.
Als Herr Cao 2019 seinen BMW kaufte, war in Shanghai bereits eine Regelung in Kraft, die Chinas Parteiführung vor allem mit dem Smogproblem in den Großstädten des Landes begründete. Seit 2016 werden Neuwagen je nach Antrieb mit verschiedenfarbigen Nummernschildern zugelassen: Das grüne für E- und Hybridmodelle ist umsonst, das blaue für Verbrenner kostet Geld. Herr Cao, Sales-Manager einer Shanghaier Softwarefirma, entschied sich damals trotzdem für den X5 – und zahlte umgerechnet mehr als 11.000 Euro für dessen Zulassung. Das blaue Nummernschild könnte er jetzt weiterverwenden, wenn er wieder einen Verbrenner kauft. Dass Herr Cao umsteigen will, liegt in seinem Fall also nicht einmal am Benziner-Aufpreis, der China unter den großen Automärkten der Welt in wenigen Jahren den höchsten E-Auto-Anteil beschert hat.
“Konservatives Auto” vs. durchdigitalisierte Hotelzimmer auf Rädern
Sondern? An einer Art Mentalitätswandel, den man erst richtig begreift, wenn man einmal chinesischen Kunden beim Autotesten zugesehen hat. Herr Cao mag zum Beispiel das Thermofach, das beim Li-SUV unter der Mittelkonsole sitzt und je nach Bedarf Babyflaschen aufwärmt oder Bierdosen kühlt. Seiner Mutter gefällt das Dachfenster, das sich per Handgeste oder Sprachkommando bewegen lässt, genau wie die Sitzverstellung, die Massagefunktion und praktisch jedes andere bewegliche Detail im Auto.
Der Navigationsbildschirm des Fahrers ist riesig, nicht minder groß der eigene Entertainment-Screen für den Beifahrer, ein dritter Bildschirm hängt mittig unter der Fahrzeugdecke. “Toll für den Kleinen”, sagt Herr Cao. “Wenn die Fahrt zu lang wird, kannst du ihn mit Cartoons beschäftigen.” Der Vierjährige zählt unterdessen die USB-Anschlüsse im Auto, für die seine zehn Finger nicht reichen – an allen Ecken lassen sich Smartphones einstöpseln, die Autobatterie kann einen Filmprojektor, den Elektrogrill für den Campingtrip oder die Luftpumpe fürs Schlauchboot mitversorgen.
Herr Cao mag seinen BMW. Aber der sei ein “konservatives Auto”, findet er. Eins, bei dem es noch immer in erster Linie ums Fahren geht, während die chinesischen Hersteller ihre Elektromobile längst in durchdigitalisierte Hotelzimmer auf Rädern verwandelt haben. Was neuerdings in China entwickelt werde, sei einfach “smarter”, findet Herr Cao. Noch ein Detail, an dem er das festmacht: Immer, wenn der BMW ein Update brauche, müsse er ihn zum Händler bringen oder die neue Software per USB-Stick aufspielen. Der Li dagegen mache das ganz von selbst.
Nicht weit entfernt vom Li-Showroom, im 25. Stock eines Shanghaier Bürohochhauses, steht Bill Russo am Konferenzraumfenster seines Beratungsunternehmens Automobility und blickt hinab auf den Innenstadtverkehr, wo sich selbst von hier oben die grünen und blauen Nummernschilder abzeichnen, die zum Symbol der chinesischen Mobilitätswende geworden sind. Russo, US-Amerikaner mit breitem Kinn und sonorer Stimme, kennt China seit fast zwei Jahrzehnten, er hat das regionale Chrysler-Geschäft geleitet, bevor er sich als Berater selbstständig machte.
Wird BYD bald staatlich zurechtgestutzt?
Was Chinas Automarkt umgekrempelt hat, beschreibt Russo als “Generationswechsel”: Jüngere Chinesen, mit Smartphones aufgewachsen und der Digitalisierung aller Lebensbereiche oft zugewandter als ihre Altersgenossen im Westen, hätten andere Erwartungen an ein Auto als ihre Eltern. “Ein E-Auto ist für sie in erster Linie ein Technologieprodukt”, sagt Russo. “Und sie suchen da nicht nach traditionsreichen Markennamen, sondern nach einem smarten, digital vernetzten Gerät.” Die chinesischen Hersteller hätten diesen Mentalitätswandel früher begriffen als ihre ausländischen Konkurrenten. Der Wendepunkt, sagt Russo, sei Teslas Eintritt in den chinesischen Markt gewesen, dessen Tragweite die europäischen Autobauer nicht abgesehen hätten – anders als ihre chinesischen Wettbewerber, die damals die entscheidenden Weichen stellten, um im explodierenden Markt für E-Autos mitzumischen. Die Pandemie und Chinas jahrelange Selbstabschottung im Zuge der staatlichen Null-Covid-Politik hätten die westlichen Fehleinschätzungen noch verschärft, sagt Russo, aber die grundlegenden Entscheidungen seien deutlich vorher gefallen.
Chinas Parteiführung forcierte die Mobilitätswende nach Russos Einschätzung vor allem, um das Land unabhängiger von Energieimporten zu machen. Der Aufstieg heimischer E-Autohersteller war aus Sicht des Beraters ein willkommener industriepolitischer Nebeneffekt, aber es sei Peking nicht darum gegangen, westliche Konkurrenten aus dem Markt zu drängen. “Schließlich leiden unter der Wende zur Elektromobilität am stärksten die staatlichen chinesischen Autokonzerne, an denen Millionen von Jobs hängen”, sagt Russo. Er könne sich sogar vorstellen, dass die Parteiführung die rasante Marktverschiebung bald etwas abbremsen werde, um den Staatskonzernen eine Atempause zu verschaffen.
Russo schätzt deshalb auch die Marktentwicklung anders ein als VW-Chef Oliver Blume, der kürzlich voraussagte, dass in China bis 2025 die Hälfte aller Neuwagen elektrisch betrieben werde. Chinas Regierung, sagt Russo, habe vor drei Jahren ein Ziel von 20 Prozent für 2025 ausgegeben, das inzwischen längst überschritten sei. Die Marke von 50 Prozent dagegen sollte nach Vorstellung der Zentralplaner erst 2035 erreicht werden. Der Parteiführung sei nicht daran gelegen, den Markt für Verbrennermotoren vorschnell abzuwürgen, sagt Russo. “Und es war ganz sicher auch nicht ihr Ziel, ein Spielfeld zu schaffen, das von einem einzigen Privatkonzern dominiert wird.”
Gemeint ist BYD, der mit Abstand erfolgreichste unter den chinesischen E-Autoherstellern. Russo geht davon aus, dass der Konzern früher oder später staatlich zurechtgestutzt wird, ähnlich wie es zuletzt mit dem Handelskonglomerat Alibaba geschah, als dessen Marktstellung der Parteiführung zu dominant wurde. Falls man bei BYD diese Befürchtungen teilt, ist davon am Firmensitz in der südchinesischen Metropole Shenzhen wenig zu spüren. Besucher werden dort durch eine Ausstellung zur Konzerngeschichte geführt, die vor Selbstbewusstsein nur so strotzt. Sie vermittelt, wie das ursprünglich als Batterieproduzent gestartete Unternehmen anfing, seine Akkus in Autos zu verwandeln – und sich damit in wenigen Jahren an die Spitze der chinesischen E-Revolution setzte. Es kann einem schwindlig werden angesichts der steil ansteigenden Umsatz-, Gewinn- und Stückzahlkurven, die an den Museumswänden über die Präsentationsbildschirme flimmern.
Gaga-Gadgets wurden lange nur verächtlich belächelt
Mehr als die ganze Firmen-Selbstdarstellung verrät über den Erfolg des Marktführers aber vielleicht das Gebahren eines chinesischen Influencers, der im Konzernfoyer das dort ausgestellte BYD-Flagschiffmodell testet, die E-Limousine Han. Während seine Assistentin ihn vom Rücksitz aus filmt, hält der junge Mann in den Händen nicht das Steuer, sondern ein Gesangsmikrofon. Er führt seinen Followern die integrierte Karaoke-Anlage vor, als sei sie das Kernelement des gesamten Autos.
In Deutschlands arrivierter Autobauerkaste wurden solche Gaga-Gadgets lange nur verächtlich belächelt. Heute aber kann man mit etwas Glück Zeuge von Szenen werden, wie sie sich an einem Junitag in Shanghai abspielt, in einem Showroom des Premium-Herstellers Nio, der erklärten Lieblingsmarke gutverdienender chinesischer Millennials. Eine Mitarbeiterin erklärt dort gerade, warum sie von “Usern” spricht, wenn sie ihre Kunden meint, als eine Gruppe von etwa 20 Menschen das Autohaus betritt, zur Hälfte Chinesen, zur anderen europäisch wirkende Ausländer. Alle sind, wie sich herausstellt, Audi-Mitarbeiter. Die Chinesen unter ihnen arbeiten in einem unweit gelegenen Showroom des deutschen Konkurrenten, die Europäer sind aus Deutschland angereist. Alle mustern interessiert die edlen Nio-SUVs. Man habe mal schauen wollen, “wo unsere Schwachstellen liegen”, sagt eine der angereisten Ingolstädterinnen, die im Produktmarketing arbeitet.
Als den Audi-Leuten klar wird, dass ein deutscher Journalist im Raum ist, werden sie äußerst schmallippig. Eine chinesische Nio-Mitarbeiterin beobachtet die Zufallsbegegnung amüsiert. “Interessant”, sagt sie. “Früher sind wir Chinesen in den Westen gefahren, um zu lernen, wie man Autos baut. Jetzt kommen die zu uns.”
Eins der Markenzeichen der Nio-Autos ist die animierte Fahrassistentin: Ein kleines Avatar-Gesicht auf der Vorderkonsole, das auf den Namen Nomi hört und mit süßlicher Frauenstimme KI-generierte Antworten auf alle Nutzerfragen findet. “Hey Nomi”, kann man sie zum Beispiel fragen, “was hältst du von deutschen Autos?” “Natürlich ist die Qualität deutscher Autos recht hoch”, antwortet Nomi auf Chinesisch. “Sie haben einen relativ hohen Standard. Deshalb ist auch ihre Sicherheit sehr groß.” Begeistert klingt es nicht. Ängstlich schon gar nicht.
Dieser Text ist zuerst bei Capital.de erschienen.