Sie war im KZ, sah Träume platzen, wurde 101 Jahre alt und hat die Lust am Leben nie verloren. Mit “Besser allein als in schlechter Gesellschaft” setzt Adriana Altaras ihrer eigensinnigen Tante ein Denkmal – anrührend und gleichzeitig wahnsinnig witzig.
Älterwerden, Einsamkeit, der Abschied von sicher geglaubten Lebensplänen und vom Leben selbst – das sind auf den ersten Blick nicht unbedingt Themen, die Leserinnen und Leser unbeschwert zu einem Buch greifen lassen. Es aber nicht zu tun, wäre im Fall von “Besser allein als in schlechter Gesellschaft” von der Schauspielerin und Opernregisseurin Adriana Altaras ein großer Fehler. Das autobiografisch gefärbte Buch liest und vor allem hört sich – dazu später mehr – ganz wunderbar. Denn es ist mit melancholischer Leichtigkeit und herrlich witzig geschrieben. Und es hat eine Protagonistin, die man einfach ins Herz schließen muss.
Altaras blickt in ihrem Buch auf das Lebensjahrhundert ihrer “eigensinnigen Tante” zurück, die schon in ihrem Bestseller “Titos Brille. Die Geschichte meiner strapaziösen Familie” eine Nebenrolle spielte. Jelka Fuhrmann wohnte im italienischen Mantua, hatte für jede Situation das passende Sprichwort parat, legte Patiencen und folgte dem Motto: “Eine Frau braucht einen Wagen, Schmuck, erlesene Kleidung und einen Hund”. “Ein Mann kam in ihrer Aufzählung nicht vor,” fügt Altaras hinzu. Mit fast 100 Jahren kraulte die Tante noch weit auf den Gardasee hinaus, sie verlegte und versteckte Dinge und beschuldigte andere des Diebstahls. Wie eine Greisin behandelt zu werden, fand sie eine Zumutung: “Muss man wirklich alles sehen und hören können, um eine einigermaßen anständige Lasagne zu fabrizieren?”
Mit ihrer Tante verbindet Altaras eine innige Beziehung, fast sind sie wie Mutter und Tochter. Weil ihre Partisanen-Eltern aus Zagreb fliehen müssen, wächst sie als kleines Mädchen eine Zeit lang bei “Teta Jele” in Italien auf. Auch später von Deutschland aus besuchte sie die Tante regelmäßig – alleine, mit der gesamten Abiturklasse oder ihren diversen Liebschaften. Die Tante steht Altaras auch bei, als ihr Mann sie für eine Jüngere verlässt. Sie kocht der verzweifelten Nichte Pasta, denn mit Pasta überlebt man laut Jele einfach alles. Und sie wiederholt in Variationen immer wieder denselben Monolog: “Das geht vorbei. Er ist ein Idiot. Sie sind alle Idioten. Sie sind feige. Eine alte Geschichte. Du hast nichts falsch gemacht. Vergiss ihn. Schau, wie schön der See ist.”
Krieg, KZ und ein Credo
Noch mit 99 Jahren wohnte die Tante alleine und “tastete sich in ihrer Wohnung fröhlich von Möbel zu Möbel, fast wie eine Schlafwandlerin”. Dann fällt sie, bricht sich den Oberschenkelhals und kommt in ein Pflegeheim. Es ist 2020, die Corona-Pandemie tobt, Mantua ist nicht weit vom Epizentrum Bergamo entfernt, die Grenzen sind geschlossen und Besuche von Berlin aus unmöglich. Und so können die beiden weder den 100. Geburtstag der Tante noch den 60. Geburtstag der Nichte zusammen feiern. Dafür telefonieren sie häufig miteinander.
Eine Frage zieht sich wie ein roter Faden durch diese Gespräche und das gesamte Buch: Wie lebt man ein Leben, das vielleicht nicht ganz so verlaufen ist, wie man es sich vorgestellt hat? Die Nichte sieht ihre Pläne vom gemeinsamen Altwerden mit ihrem Mann platzen und fühlt sich einsam. Aber “besser allein als in schlechter Gesellschaft”, so das titelgebende Credo der Tante. Auch sie hatte Träume, doch “da war dieser Krieg (…). Der hat alles geprägt. Alles, was danach kam, war das Gegenteil von dem, was ich mir vorgestellt hatte.”
1938 floh ihre große Liebe nach Australien, der junge Mann “kam aus Deutschland und wusste, was uns erwarten würde”. Aber Jeles Vater wollte das nicht glauben, ließ sie nicht mitgehen und so saß sie in Zagreb weiterhin an der Kasse der Familien-Glasmanufaktur. Aus dem KZ, in das die Nazis die Jüdin zusammen mit Schwester und Mutter deportierten, wurde sie von Giorgio gerettet. Ihn heiratete sie aus Dankbarkeit, fand ihn aber fürchterlich öde. Von ihm bekam sie einmal “eine Heizdecke statt Rosen” und eine anstrengende Schwiegermutter obendrein, in Zagreb hatte sie einen Liebhaber.
“Abschiednehmen ist eine Kunst”
Altaras legt ihr Buch als Wechselspiel zweier Erzählerinnen an und kann Situationen und Erinnerungen so aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. Damit hat sie ideale Voraussetzungen für eine Hörbuch-Version mit zwei Stimmen geschaffen. Den Teil der Kapitel, die aus der Sicht der Nichte erzählt sind und sich aus den Telefongesprächen entwickeln, liest Altaras selbst – genauso temperamentvoll, wie man sie als Schauspielerin in Filmen kennt. In anderen Passagen lässt die Autorin die Tante ihr Leben reflektieren. Diese Abschnitte übernimmt Schauspielerin Angela Winkler, sie spricht ruhig und mit der richtigen Portion Grandezza. Immer wieder versteckt sie auch einen Hauch müder Ungeduld in ihrer Stimme. Zum Beispiel dann, wenn die Tante ihre Selbständigkeit vermisst, sich im Pflegeheim langweilt und einfach nur zurück nach Hause möchte.
Aber das Heim wird Jele nicht mehr verlassen. Ihren 101. Geburtstag verschläft sie und Altaras ist sich sicher, dass sie sterben wird. Am nächsten Tag sitzt die Tante munter in ihrem Sessel und verstreicht die von ihr so geliebte Shiseido-Creme in ihrem Gesicht. “Abschiednehmen ist eine Kunst, die nur wenige beherrschen”, heißt es an einer Stelle. Und in keinem Alter ist das einfach.
Altaras hat ein wirklich berührendes, tiefgründiges und trotz aller Schwere der Themen humorvolles Porträt dieser so originellen Tante geschrieben. Hörerinnen und Hörer werden diese starke, kapriziöse Frau, die trotz ihrer Erfahrungen im Holocaust, ihrer nicht realisierten Träume und zuletzt ihrer Gebrechlichkeit nie die Lust am Leben verlor, nicht so schnell vergessen. Am Ende bilanziert die Tante mit dem ihr eigenen Optimismus: “Vielleicht habe ich das Leben nicht gemeistert. Aber gelebt habe ich es.”