Ein Schöffe kommt in eine Bar und sinniert über Schuldgefühle, Strafen und das Böse der modernen Welt. In seinem neuen Werk “Regen – Eine Liebeserklärung” schwankt der Autor und Jurist von Schirach zwischen Melancholie und Misanthropie. Dabei kommen die wirklich spannenden Fragen leider zu kurz.
Welche Strafen würden sich Täter selbst geben? Welches Maß an Vergeltung und Prävention würden sie wählen, um ihren Mord, ihre Vergewaltigung, ihren Raub zu kompensieren? Mutmaßlich würde sich kaum einer viele Jahre in Haft schicken oder freiwillig eine hohe Geldstrafe zahlen. Womöglich wäre der Drang nach Freiheit und einem guten Leben größer als jener nach Buße. Vielleicht aber auch nicht.
Es ist ein spannendes Gedankenexperiment, zu dem Ferdinand von Schirachs neues Buch “Regen – eine Liebesgeschichte” anregt. Darin schreibt er: “Wir können jedem vergeben. (…) Nur uns selbst können wir nicht vergeben, das ist nicht möglich. Niemand kann sich selbst seine Schuld erlassen. Das kann nur der Gläubiger tun. Damit müssen Sie leben. Oder eben auch nicht.” Diese Aussage des Protagonisten beschreibt den Kern der Geschichte, die am 23. August im Luchterhand-Verlag erschienen ist.
Vom Regen bis auf die Knochen durchnässt, betritt ein Mann eine Bar und beginnt einen Gedankenmonolog. Er lässt den ersten Tag des Strafprozesses, an dem er als Schöffe teilnimmt, Revue passieren. Aus rechtlicher Sicht ist der Fall nicht besonders kompliziert: Ein Mann hat seine Frau umgebracht, offenbar aus Eifersucht. Die Tat hat der Angeklagte längst gestanden. Seine Verteidigerin kämpft nun dafür, dass ihr Mandant als Totschläger und nicht als Mörder bestraft wird.
Die wichtigste Frage
Der Erzähler reißt diesen Kampf vor Gericht nur an, die juristische Einordnung interessiert ihn wenig. Als er mit seinen Fragen an den Angeklagten an der Reihe ist, hat er daher lediglich eine einzige: Welche Strafe würde sich der Mann, der seine Frau getötet hat, selbst geben? Es ist die wichtigste Frage der Geschichte, denn sie spiegelt wider, was den Protagonisten eigentlich beschäftigt: die eigenen, ihn seit 17 Jahren zerfressenden Schuldgefühle. Eine lebenslange Strafe, zu der ihn kein Richter verurteilt hat.
Von Schirachs Erzähler bezeichnet sich als Schriftsteller, hat jedoch noch kein einziges Buch veröffentlicht. Einmal, vor 17 Jahren, war er kurz davor. Sein Erstlingswerk sollte eine Sammlung “gedichtähnlicher” Gedichte sein. Für den Titel hatte er sich ein Wortspiel überlegt: “Statt Gedichte”. Allerdings machte ihm sein Drucker einen Strich durch die Rechnung – auf dem ausgedruckten Papier stand plötzlich “Stadtgedichte”. Der Protagonist schrie den Drucker an, kochte vor Wut. Als er sich am Abend immer noch nicht beruhigt hatte, wollte ihm seine Frau ein Glas Wasser bringen. Sie fällt aus dem Stand um, schlägt mit dem Gesicht auf dem Boden auf – ein Aneurysma im Gehirn. Seitdem sitzt er jeden Tag am Schreibtisch, geschrieben hat er allerdings nie wieder.
Von Schirach schreibt seinem Protagonisten keinen Gegenspieler zu. In “Regen” gibt es weder einen Ortswechsel noch eine Entwicklung. Die ganze Geschichte ist das Gedankenkreisen des Erzählers. Was für die Leserin und den Leser des gedruckten Essays gewöhnungsbedürftig ist, hat einen guten Grund – von Schirach hat sein neues Werk als Theatermonolog verfasst. Das Stück tourt ab dem 10. Oktober durch deutsche Theater- und Konzertsäle, der Autor selbst spielt den pitschnassen Protagonisten in der Kneipe. Es ist sein Debüt als Schauspieler.
Was der Tod bedeutet
Nun mag die Form ein Novum sein, die Schirachsche Handschrift trägt “Regen” trotzdem. Der Autor taucht die Leserin und den Leser in Melancholie und versetzt sie – trotz 30 Grad im eigenen Wohnzimmer – in die regnerische Dämmerung der Szenerie. Wie gewohnt, scheint sich der Protagonist vorwiegend von Koffein und Nikotin zu ernähren. Auch schreibt der Jurist in vertrauter Weise über Verbrechen, die Eigenheiten von Strafprozessen und Umstände, die Menschen zu Kriminellen machen.
Von Schirach widmet sich erneut der Schuld sowie der Frage, ob diese weniger schwer wiegt, wenn der Mann auf der Anklagebank den Tod seiner Frau nicht geplant hatte, sondern sie “im Affekt” tötete. Etwa weil sie behauptete, er “habe einen zu kleinen Penis” und ihm dann – aus Wut darüber – die ein Messer umschlingende Hand ausrutschte.
Und schließlich geht es, wie zuvor in “Kaffee und Zigaretten”, um den Tod. Von Schirach schafft es, den Tod und seine Folgen greifbar zu machen. So sinniert sein Protagonist über die Frage, ob der Angeklagte wusste, was die Tötung seiner Frau bedeutet. Ob er vorher ahnen konnte, “dass man sich irgendwann nicht mehr richtig an ihr Gesicht erinnern kann und sich deshalb schämt. Dass man ihr Parfüm kauft, weil man Angst hat, auch noch ihren Geruch zu vergessen. Bilder sich nach und nach auflösen und am Ende nur dieses verfluchte ‘für immer’ bleibt.”
Ellenlanges Jammern
Die Erzählperson steckt tief in einer Lebenskrise. Zu dem Hass auf sich selbst, der sich dem Leser Zeile für Zeile aufdrückt, kommen misanthropische Züge. Ellenlang lamentiert der Protagonist über den “modernen Menschen”, der Rucksäcke in Großstädten trägt. In der Beschreibung des Erzählers klingen die Attribute “praktisch und funktionell” wie eine ernsthafte Bedrohung für die Gesellschaft. Er jammert über Selbstbedienungsrestaurants und Frühstücksbuffets, klagt über Kunstwerke auf Bildschirmen und den Berliner Flughafen. Natürlich ist er auch über das Rauchverbot in Restaurants nie hinweggekommen.
Für den Leser sind diese Zeter-Strecken über alles Neue und dem Erzähler Unvertraute anstrengend und unbefriedigend. Ein bisschen ist es, wie mit dem grantigen Großonkel am Weihnachtstisch zu sitzen. Raum für Einsprüche sind nicht vorgesehen und selbst wenn, würden sie mit ziemlicher Sicherheit auf Granit stoßen. Die nur gut einstündige Hörbuch-Version des Buches aus dem Hörverlag hat bei all dem Frust einen entscheidenden Vorteil: Sie wird vom Autor selbst gesprochen. Zum einen schafft es von Schirach mit seiner unaufgeregt-sanften Stimme, das Dauer-Murren seines Textes abzufedern. Zum anderen ist die Zuhörerin der Leserin einen Vorgeschmack auf die kommenden Bühnenshows voraus.
Insgesamt überzeugt der Fokus der Geschichte nicht. Statt das Lamento in all seinen Details zu verfolgen, hätte der Leser lieber mehr über das Schöffen-Dasein des Erzählers erfahren. Vor allem aber erhofft er sich bis zum Ende eine Rückkehr zu dem Ausgangsprozess – eine Antwort des Angeklagten auf die Frage, welche Strafe er selbst wählen würde. Was das angeht, lässt der Autor seine Leser allerdings im Regen stehen.