Plötzlich ist Borussia Dortmund Tabellenführer. Am 33. Spieltag der Bundesliga gewinnen sie mit 3:0 in Augsburg. Der Weg dorthin gleicht einem Marathon. Als sie plötzlich führen, bricht die Panik aus. Nur einer bleibt cool: Sébastien Haller. Der Ivorer trifft erneut. Der BVB erhöht die Fallhöhe.
“Deutscher Meister wird nur der BVB”, sangen die Fans der Dortmunder in der 84. Minute des Spiels gegen den FC Augsburg am 33. Spieltag der 60. Bundesliga-Saison. Noch ist es nicht so weit. Doch der Treffer von Sébastien Haller zum 2:0 öffnete die Tür zur neunten Dortmunder Meisterschaft sperrangelweit. Der Weg zu dieser wohl einmaligen Chance war ein wahnwitziger Marathon. Über die gesamte Saison, wie auch über die 90 Minuten in Augsburg. Dort traf ganz am Ende noch Julian Brandt.
Marco Reus sank auf die Erde, hämmerte mit seinen Fäusten viermal auf den Platz, Nico Schlotterbeck schrie: “Männer, wir werden es!” Und Trainer Edin Terzić streckte einen Finger in den Himmel. Er sprach wenig später einen dieser Pathos-triefenden Sätze, die die Dortmunder wirklich an die Meisterschaft glauben lassen. “In sieben Tagen ist die Saison vorbei. Dann können sich die Jungs – die verdienen alle gutes Geld – wieder alles kaufen, was sie wollen. Das nächste Auto, das nächste Haus, den nächsten Urlaub – aber diese Momente kann man nicht kaufen”, sagte der Sauerländer, der im Dezember 2020 aus dem Nichts über den BVB gekommen war, ihm den Pokal brachte und beharrlich auf seine zweite Chance wartete. Die bekam er Anfang der Saison und Borussia strauchelte unter ihm.
Rekordeinkauf Haller war mit einer Krebserkrankung außer Gefecht. Der Ivorer kämpfte um mehr als Tore und Meisterschaften. Er kämpfte um alles. Der BVB mühte sich in die WM-Pause. Er rettete sich nicht einmal, er war kurz vor dem Zerfall. Doch die Niederlagen in Wolfsburg und Gladbach lösten etwas aus. Sie kamen fokussiert aus der WM-Pause, Niklas Süle, der Ex-Bayer, sprach schon von der Meisterschaft, da war der erste Ball noch nicht gespielt. Er wurde verlacht. Am Samstag dann öffnete sich endgültig die Tür zum Titel.
BVB rennt vergebens an
In Augsburg war der BVB nicht gewillt, sich auf den Kampf mit dem Untergang zu beschäftigen. Sie tanzten trotzdem bedenklich nah am Abgrund. Wie so oft in dieser Saison, die Terzić später als “Saison der Rückschläge” bezeichnen würde. Es war also nur verständlich, dass lange nichts nach Plan lief, jedenfalls nichts, was das Team dem Titel näher bringen würde. Der BVB erarbeitete sich in der ersten Hälfte Chance über Chance. Blieb geduldig, fand immer wieder Lücken, nur nicht die entscheidende. Spielte ab der 39. Minute sogar gegen 10 Mann. Felix Uduokhai musste nach einer Notbremse gehen.
Was aber nützt ein Mann mehr, wenn die Tore nicht fallen? Der BVB drohte in das alte Dilemma zu stürzen. Zogen die Netze die Schüsse im Westfalenstadion magisch an, hält sie auswärts eine mysteriöse Macht fern. Die zeigte sich an diesem Sonntag mal durch Torhüter Koubek oder durch denkbar dumme Abschlüsse. Wie Julian Brandts kurioser Versuch, eine 1:1-Situation gegen den aus dem Strafraum geeilten Torhüter mit einem Schüsschen zu lösen. Niemand verstand es.
Alles spitzte sich in der 39. Minute zu. Felix Uhdoukhai drückte Donyell Malen zu Boden. Der Augsburger war, das sah nicht nur der VAR, der letzte Mann. Schiedsrichter Tobias Welz musste ihn vom Platz stellen. Alles, wirklich alles, war angerichtet für den BVB. Die Frage war, wie würden sie es diesmal vergeben. Schon einmal, vor einigen Wochen, hatten sie in Stuttgart gegen nur zehn Mann ein 2:0 und dann tief in der Nachspielzeit ein 3:2 hergeschenkt. In Augsburg las sich die Bilanz nach 45 Minuten so: 17:1 Torschüsse und 2,47:0,02 Expected Goals.
BVB verfolgt Bayern-Pleite im Hotel
Mehr Silbertablett ging nicht. Sie mussten nur zugreifen. Einfach zugreifen. Den Sieg mit nach Hause nehmen und in den Rausch entgleiten. Noch 45 Minuten. Die letzte Chance für lange, lange Zeit. Blamieren oder kassieren.
Die finale Phase: Als Emre Can den enteilten Arne Engels in der 47. Minute umriss, begann das große Zittern. Freistoß aus 25 Metern. Zentrale Position. Die BVB-Fans auf der anderen Seite des Stadions sangen gegen ihre Angst an. Erst leise “Allez, allez, allez BVB”, dann immer lauter. Kopfball-Abwehr, Ecke, Konter, nicht ausgespielt. Raunen. Immer lauter: “Allez, allez, allez BVB” Der rannte an, er brauchte in diesem Moment das Tor mehr als alles andere auf der Welt. Augsburg konterte, Hummels rettete. Längst hatten die Dortmunder ihre Abwehr aufgelöst. Da waren noch beinahe 40 Minuten zu spielen. Süle auf Raphael Guerrerio. Der Ball streifte am Pfosten vorbei. Ecke BVB. “Allez, allez, allez BVB.” Es waren die womöglich entscheidenden Minuten dieser 60. Bundesliga-Saison. Hier und jetzt würde sich das Schicksal des BVB entscheiden.
Den Vorabend hatten die Dortmunder in ihrem Augsburger Hotel verbracht. Sie waren frühzeitig angereist, um das Spiel der Bayern zu verfolgen. Denn irgendwo war da dieser letzte Rest Hoffnung. Als das Spiel in München beendet war, wurde aus der Resthoffnung viel mehr. “Man hat von Anfang an bemerkt, dass da Druck auf dem Kessel war”, sagte Torhüter Gregor Kobel. “Es war ein großer Sieg heute. Aber die Arbeit ist noch nicht getan.” Den ersten Schritt hatten sie gemacht.
Das Warten auf Erlösung
Die Fans verbrachten die Stunden vor dem Spiel in den Biergärten der Stadt. Sie waren alle in Gelb. Sie waren aber auch angespannt. Der Matchball gegen Mainz lag auf dem Silbertablett. Sie hofften, dass die Mannschaft nicht auch von diesem Fieber gepackt würde. Es war eine berechtigte Sorge. In den vergangenen Monaten waren sie bravourös als Verfolger und zaudernd wie ihr Ex-Trainer Lucien Favre als Spitzenreiter. Doch anders als noch beim 1:1 in Bochum Ende April durften sie diesmal nicht mehr zaudern. Sie mussten siegen.
Der große Traum von der Meisterschaft, das war allen klar, könnte jederzeit zu einem riesigen Albtraum werden. Noch nicht an diesem Wochenende, sondern eben an dem 27. Mai, an dem die riesige Party rund um den Borsigplatz steigen soll.
Emre Can an den Pfosten. Haller konnte den Abpraller nicht festmachen. Beruhigung. Und dann das Tor. Ein einziger Schrei. Ein “Jaaaaaaa” der Erleichterung aus titelhungrigen Kehlen. Sébastien Haller! Der sich einen zweiten Ball ergaunert, im Kopf schneller ist und ihn an Koubek vorbei an den langen Pfosten legt. Den Ursprung nahm das Tor ganz am anderen Ende des Spielfelds. Der Norweger Julian Ryerson war unnachgiebig, er forderte einen Freistoß. Handspiel. Er bekam ihn. Der Ball wanderte auf den andern Flügel. Dortmund traf.
Es war mehr als ein Zufall, dass Ryerson und Haller das Tor heraufbeschwörten. Beide stehen für das Comeback der Borussia. “Egal, was nächste Woche passiert, das größte Wunder ist, dass Seb diese Saison wieder bei uns ist. Er ist ein reines Wunder”, sagte Terzić über den Ivorer und erklärte, wie sie mit der Krankheit des ehemaligen Frankfurters umgegangen waren und wie sie mit ihm erst in den letzten Wochen einen neuen Spielstil erarbeitet hatten. “Wenn die Beine noch nicht so weit sind, musst du im Kopf schneller werden”, sagte Terzić und hoffte darauf, dass Haller “der verdiente Held” der Dortmunder Meistererzählung wird. Der Norweger Ryerson wird es nicht. Er ist fußballerisch limitiert, bringt aber eine unglaubliche Mentalität auf den Platz. Er kam im Winter von Union Berlin und mit ihm eine neue Mentalität.
Watzke macht BVB-Spielern eine Ansage
Das Spiel war jetzt an Irrwitz nicht mehr zu überbieten. Den Dortmunder Spielern war die Angst vor der Geschichte anzumerken. Sie ließen sich überrumpeln. Der eingewechselte Irvin Cardona scheitert nur knapp an Kobel (63.). Die Kräfteverhältnisse auf dem Platz waren wieder ausgeglichen. Fast schon panikartige Zustände herrschten im Spiel der Dortmunder. Der Gastgeber setzte alles daran, dem BVB nun noch einen Platzverweis zuzufügen. Schiedsrichter Welz erstickte die Brandherde mit Gelben Karten, Terzić reagierte. Zog Karim Adeyemi aus einer Rangelei ab. Er war einer der Kandidaten für eine Rote Karte.
Sein Nachfolger Salih Özcan mischte jedoch sofort kräftig mit. Noch 15 Minuten. Hummels bekommt den Ball an die Hand. Elfmeter? Seit Dortmunds 3:3 in Stuttgart wurde eine Mannschaft in Überzahl nicht mehr so dominiert. Noch aber stand Hummels auf dem Platz. Er wuchtete die Bälle mit der Erfahrung all seiner Meisterschaften aus dem Strafraum. Erst in der 80. Minute kam der BVB mal wieder vors Tor der Augsburger und dann auch Marco Reus ins Spiel. Der Widerstand war gebrochen. Ausgerechnet mit Reus, von dem es heißt, dass er in seinem Leben nie den Meistertitel erringen wird. Erst traf Haller, dann Brandt. “Dortmund wird Meister und Schalke steigt ab”, sangen die Fans, die Spieler hüpften, Terzić warnte und in den Katakomben tauchte ein fröhlicher BVB-Boss Hans-Joachim Watzke auf.
“Zuhause, 81.000, die sicherlich aus dem Häuschen sein werden”, sagte er auf dem Weg aus der Kabine. Dort hatte er nur eine Ansage gemacht: “Eine Woche durchziehen, ohne Rücksicht auf Verluste!” Die, so hoffen sie in Dortmund, werden erst bei den Feiern nach dem Titel zu verzeichnen sein. Borussia Dortmund hat in Augsburg die Fallhöhe enorm erhöht. Ein Scheitern wäre episch und würde den Verein um Jahre zurückwerfen. Doch große Hoffnung auf neue Häme braucht sich der Rest des Landes nicht zu machen.