Einerseits ist die Partie gegen Belgien nur ein Testspiel, andererseits der erste Härtetest für das DFB-Team nach der WM und auf dem Weg zur Heim-EM. Vor allem die Anfangsphase muss den Fans der deutschen Nationalmannschaft Sorgen bereiten. Daran ändert auch der sechsfache Niclas Füllkrug nichts.
Was ist im Stadion in Köln passiert?
Der Weg zur Heim-Europameisterschaft 2024 ist lang und gepflastert mit Testspielen, auch wenn Noch-Vertretungskapitän Joshua Kimmich lieber von “Vorbereitungsspielen” spricht. Nach dem 2:0-Erfolg gegen Peru wartete an diesem Abend in Köln das Duell der WM-Enttäuschten: Deutschland gegen Belgien. Und der erste Härtetest drohte zu einem historischen Debakel zu werden, wie es der Deutsche Fußball-Bund seit 1931 nicht erlebt hatte. Damals kassierte die DFB-Elf beim 0:6 gegen Österreich die höchste Heimpleite ihrer Geschichte. Jetzt, 92 Jahre später, hätte es schon nach 20 Minuten gut und gerne 0:3 stehen können, vielleicht sogar 0:4 oder 0:5. Der Endstand von 2:3 (0:2) lässt es die 90 Minuten deutlich ausgeglichener wirken, als sie tatsächlich waren. Weil Belgien sofort auf den Platz brachte, was die deutschen Fans forderten.
Die hatten auf einem etwas kryptischen Banner Folgendes geschrieben: “Führt zu Erfolg – auf geht’s zum neuen Sommermärchen 2024”, stand auf einer der Hintertortribünen und der Spruch warf bei dpa-Sportreporter Holger Schmidt die berechtigte Frage auf: “Aber was führt zum Erfolg?” Die Zuschauer oberhalb des Banners deckten pünktlich zum Anpfiff großflächig auf: “Wille”. Wille führt demnach zum Erfolg, was angesichts der desaströsen Anfangsphase vermuten ließ, dass die Elf des Deutschen Fußball-Bundes an diesem Abend möglicherweise einfach keine Lust haben könnte. RTL-Experte Lothar Matthäus spricht gar von einem “Komplettversagen”.
Keine zehn Minuten waren gespielt, schon führte Belgien mit 2:0. Mit Blick auf das Fan-Banner hatten die Belgier in Höchstgeschwindigkeit herausgearbeitet, dass es etwas gibt, dass noch verlässlicher zum Erfolg führt als “Wille”: Tore. Mit dem Erzielen selbiger hatte die DFB-Auswahl ja schon bei der WM gewaltige Probleme gehabt – ebenso wie in der Rückwärtsbewegung, die Kevin de Bruyne und Co. erstaunlich viel Platz und Zeit nicht nur im Zentrum ließ. Auf Bundestrainer Hansi Flick wartet ziemlich viel Vorbereitungsarbeit, daran ändert auch die deutliche Leistungssteigerung in der zweiten Halbzeit nichts. Die wendete aber immerhin eine Wiederholung der Klatsche ab, wie sie sich zuletzt Ende 2020 beim 0:6 in Spanien abgeholt hatte. Für die regelmäßigen und wiederkehrenden Schwächephasen muss Flick endlich eine dauerhafte Lösung entwickeln.
Teams & Tore
Deutschland: ter Stegen/Barcelona (30 Jahre/32 Länderspiele) – Wolf/Dortmund (27/2) ab 80. Vagnoman/Stuttgart (22/1), Ginter/Freiburg (29/50), Kehrer/West Ham (26/26), Raum/Leipzig (24/17) ab 68. Minute Günter/Freiburg (30/8) – Kimmich/FC Bayern (28/76), Goretzka/FC Bayern (28/50) ab 32. Nmecha/Wolfsburg (22/1) – Gnabry/FC Bayern (27/41), Wirtz/Leverkusen (19/6) ab 32. Can/Dortmund (29/39) – Füllkrug/Bremen (30/6) ab 80. Berisha/Augsburg (24/2), Werner/Leipzig (27/57) ab 80. Minute Schade/Brentford (21/2). – Trainer: Flick
Belgien: Casteels/Wolfsburg (30 Jahre/5 Länderspiele) – Castagne/Leicester (27/31), Faes/Leicester (24/3), Vertonghen/Anderlecht (35/147) ab 46. Saelemaekers/AC Mailand (23/11), Theate/Rennes (22/69) – De Bruyne/Manchester City (31/99) ab 79. Openda/Lens (23/8), Onana/Everton (21/6), Mangala/Nottingham (25/4) ab 79. Lavia/AC Mailand (19/1) – Lukebakio/Hertha BSC (25/7) ab 58. Bakayoko/Eindhoven (19/2), Lukaku/Inter Mailand (29/106) ab 68. De Ketelaere/AC Mailand (22/12), Carrasco/Atlético Madrid (29/64) ab 58. Trossard/Arsenal (28/26). – Trainer: Tedesco
Schiedsrichter: Willy Delajod (Frankreich)
Tore: 0:1 Carrasco (6.), 0:2 Lukaku (9.), 1:2 Füllkrug (44., Handelfmeter), 1:3 De Bruyne (78.), 2:3 Gnabry (87.)
Zuschauer: 42.910 (ausverkauft in Köln)
Gelbe Karten: Onana, Lukaku – Nmecha
Unseren ausführlichen Spielbericht finden Sie hier.
Und wo ist jetzt der Fortschritt zum WM-Debakel?
Defensiv nicht erkennbar. Leon Goretzka und Joshua Kimmich erhalten in der Anfangsphase vom belgischen Mittelfeld um Kevin de Bruyne Anschauungsunterricht, wie sich ein schlecht stehendes Zentrum schnell und effektiv überspielen lässt. Das frühe 0:2 ist hochverdient und Flicks Männer haben Glück, dass es nicht schnell das dritte, vierte und fünfte Gegentor gibt. Lothar Matthäus sagt über die deutsche Leistung bis zur 30. Minute: “Das war das Schlechteste, was ich eigentlich in meiner langen, langen Laufbahn fast schon gesehen habe.”
Emre Can sorgte für Stabilität im Mittelfeld.
(Foto: dpa)
Immerhin Emre Can, der nach rund einer halben Stunde für den angeschlagenen Goretzka kommt, gelingt es dann, neben Aushilfskapitän Kimmich für vorher bitterlich vermisste Stabilität zu sorgen. Flick muss sich aber fragen, ob das Duo Goretzka/Kimmich einfach einen schlechten Tag erwischt hat – oder in dieser taktischen Ausrichtung und Aufstellung höchsten Ansprüchen womöglich nicht genügt.
Aber Niclas Füllkrug hat doch getroffen?
Stimmt, zum sechsten Mal im sechsten Länderspiel. Bezeichnenderweise per Elfmeter, dem statistisch sichersten Schuss aufs gegnerische Tor, dessen theoretische Erfolgswahrscheinlichkeit bei über 75 Prozent liegt. Das war es dann aber auch. Zur Halbzeit stand es dadurch zwar 1:2, das Spiel war jedoch näher am 1:5 als am 2:2. Timo Werner erzielte das vermeintliche 2:2 nach dem Seitenwechsel, wurde jedoch wie so oft aufgrund einer Abseitsposition zurückgepfiffen. Es war über weite Strecken jedoch ausschließlich Füllkrug, der Torgefahr ausstrahlte.
Wie war es denn im Stadion, Tobias Nordmann?
Nach gut 20 Minuten brachen die belgischen Fans in Gelächter aus. Romelu Lukaku hatte gerade mit einem Körperkontakt den deutschen Innenverteidiger Thilo Kehrer einfach umgeworfen und war auf dem Weg, das 3:0 (!) zu erzielen. Es war die frühe Krönung einer schnellen Demütigung. Das Ende einer Party, die DJ Teddy-O mit wummernden Beats, mit Techno und Charts-Klassikern zu entfachen versucht hatte. Der Versuch von Volksnähe in Müngersdorf, dort, wo sie mit der rheinischen Folklore so viel mehr anzufangen wissen. Wo ihnen “De Höhner” näher sind als David Guetta.

Kimmich & Co. fanden in den ersten 20 Minuten überhaupt kein Mittel, Belgiens Angriffe zu stoppen.
(Foto: dpa)
Und so widmeten sich die Fans nach ein paar zarten Rufen der Anfeuerung ihre Lieblingsbeschäftigung, wenn es schlecht, wenn es fürchterlich läuft. Sie bastelten die “Wille”-Choreografie in Papierflieger um und erfreuten sich daran, wenn einer der schwarzen oder weißen Mini-Jets aufs Spielfeld segelte. Erinnerungen an triste Länderspiele unter Flicks Vorgänger Joachim Löw wurden wach. In denen der Wille schwach war. Wenn es allerdings darauf ankam, wenn es auf dem Weg zu einem Turnier im Punkte ging, dann riss sich diese Mannschaft eben zusammen, ohne zu glänzen. Das Problem einzig nun: Bis zur Heim-EM im nächsten Jahr gibt es keine Pflichtspiele mehr. Und die Stimmung droht zu kippen. Nicht wenige Fans forderten in Köln: Flick muss weg.
Warum war Rudi Völler eigentlich nicht da?
Der Sportdirektor der Nationalmannschaft saß ausnahmsweise nicht auf der Tribüne, sondern verfolgte das Spiel aus den heimischen vier Wänden. “Tante Käthe” hatte schon die Reise von Frankfurt zum Austragungsort Köln nicht mitgemacht, Auslöser war eine Nierenkolik, wie der DFB mitteilte. Die geht mit starken Schmerzen einher, kann Übelkeit und Erbrechen auslösen, außerdem Schweißausbrüche und erhöhte Körpertemperatur. Die gute Nachricht aber schickte der Verband gleich mit: Völler sei mittlerweile wieder “beschwerdefrei und ruht sich zu Hause aus”. Bis zu den kommenden Länderspielen der deutschen Fußballmänner sollte der 62-Jährige, der Gendern und klebrige Proteste gegen zu wenig Klimaschutz ablehnt, also wieder fit sein. RTL-Experte Lothar Matthäus wünschte “stellvertretend für alle Fußballfans gute Besserung”.
Und wann finden diese nächsten Länderspiele statt?
Im Juni. Bestätigt ist noch nichts, konkrete Termine also auch nicht, aber Medienberichte lassen nur noch Detailfragen offen. In Bremen sollen die DFB-Herren demnach ihr 1000. Länderspiel zelebrieren, als Gegner deutet sehr vieles auf die Ukraine hin. Erstmals aufgelaufen war eine DFB-Auswahl übrigens am 5. April 1908, in Basel gab es ein 3:5 gegen die Schweiz. Rund um das Jubiläum sind laut “Sportschau” außerdem eine Auswärtspartie in Polen und ein Heimspiel auf Schalke gegen Uruguay vorgesehen.
Was sagen die Beteiligten?
Hansi Flick (Bundestrainer): “Wir waren zu verhalten, zu passiv und haben den Gegner nicht unter Druck setzen können. Belgien hat es gnadenlos ausgespielt. Aber die Leidenschaft hat uns noch einmal zurück gebracht. Ein Riesenlob an das Publikum, es hat gespürt, dass die Mannschaft alles gibt und versucht, das Ergebnis besser zu gestalten.”
Joshua Kimmich (DFB-Kapitän): “Die ersten 30 Minuten waren ganz schlimm, die ersten 15 waren wir überhaupt nicht auf dem Platz, sehr fehleranfällig, vor allem mit dem Ball, überhaupt nicht hungrig. Das war nix! Ab der 30. war es definitiv besser. Die zweite Halbzeit war so, wie wir uns das vorstellen.”
Niclas Füllkrug (Torschütze): “Wir haben insgesamt trotzdem ein gutes Gesicht gezeigt und Moral bewiesen. Da sind wir stolz drauf. In der ersten Halbzeit hat uns ein bisschen die Tiefe gefehlt, da kriegen wir die ersten beiden Tore zu leicht und zu schnell. Der Trainer hat reagiert, dann ist es besser geworden.”
Lothar Matthäus (RTL-Experte): “Das war das Schlechteste, was ich in meiner langen, langen Laufbahn gesehen habe. Sie haben sich nicht gewehrt in den Zweikämpfen, die Belgier stehen lassen. Aber dann sind sie aufgewacht. Emre Can und die Jungen haben mich überzeugt, sie hatten keine Angst. Serge Gnabry hat in den letzten 20 Minuten überragend gespielt. So wollen wir Deutschland sehen.”