Jahrelang wurde im Fußball von der “falschen Neun” gesprochen. Nun sind echte Mittelstürmer wieder sehr gefragt. Sie könnten die Bundesliga-Saison prägen wie lange nicht. Eine Liga emanzipiert sich von der alten Guardiola-Idee. Auch der hat sich längst davon abgewendet.
Irgendwie passt Kevin Behrens doppelt gut in diese Zeit. Radfahren ist im Trend und klassische Mittelstürmer sind es auch. Während der Internet-Hype um die Fahrrad-Heimfahrt des Angreifers von Union Berlin nach seinem Dreierpack zum Bundesliga-Auftakt allerdings nur eine lustige Randnotiz ist, steht er als Spielertyp stellvertretend für die Renaissance einer schon vergessen geglaubten Spezies. Der klassische Neuner – torgefährlich, bullig, kopfballstark – ist gefragt wie lange nicht. Nicht zuletzt, aber nicht nur die mehr als 100 Millionen Euro, die der FC Bayern für Superstürmer Harry Kane ausgegeben hat, zeigen das.
Anders als sein berühmter Sturmkollege und Rekordtorjäger der englischen Nationalmannschaft spielt Kopfball-Riese Behrens nicht seit Jahren auf Topniveau. Der 32-Jährige ist in seiner Karriere ein paar Umwege gegangen. Jahrelang war er abseits der großen Öffentlichkeit in der Regionalliga aktiv, erzielte dann in drei Zweitligajahren für Sandhausen 31 Tore. Bei Union ist er nun in der Form seines Lebens, kann Champions League spielen. Sogar nach der Nationalmannschaft wurde er schon gefragt.
Wie schnell das als Stoßstürmer gehen kann, zeigte zuletzt Niclas Füllkrug, der seine Karriere wie Behrens in einem Amateurteam von Werder Bremen begann. Weil er inzwischen bei den Grün-Weißen in der Bundesliga glänzt und klassische Neuner mit deutschem Pass auf Weltniveau selten sind, schaffte es Füllkrug im vergangenen Jahr als 29-Jähriger bis in die DFB-Elf. Dabei hatte er wegen seiner Position in seiner Karriere nach eigenen Angaben auch schon Probleme.
Wuchtiger Abschied von der falschen Neun
“Gerade als Pep (Guardiola) mit der falschen Neun modern wurde und fast nur noch Techniker auf der Position hat spielen lassen, die sich in den Räumen bewegen, wenig Präsenz, wenig Wucht haben, war das natürlich nicht förderlich für mich”, sagte er. Die Zeiten haben sich längst geändert. Auch Pep Guardiola setzt bei Manchester City auf einen echten Stürmer: Erling Haaland. Der norwegische Weltstar bereitetet bereits in der Bundesliga die Renaissance der echten Neun vor. Neben dem ewigen Robert Lewandowski bei den Bayern berauschte der ehemalige Dortmunder die Liga mit seiner Urgewalt.
“Ich war immer ein Fan davon, vorne jemanden drin zu haben, der eine Torgier hat, der eine Präsenz und Ausstrahlung hat”, ergänzte dann auch der mittlerweile 30-jährige Nationalstürmer Füllkrug. Dass nicht nur er ein Fan davon ist, zeigt der Blick in Bundesliga-Kader über Bremen, Berlin (Behrens) und München (Kane) hinaus. Unter anderen Bayer Leverkusen mit Victor Boniface und Borussia Mönchengladbach mit Tomáš Čvančara verpflichteten im Sommer körperlich starke Zielspieler fürs Angriffszentrum. Wie Torschütze und Vorbereiter Kane lieferte Čvančara direkt am ersten Spieltag und traf doppelt. Auch Boniface zeigte seine Fähigkeiten bereits. An Behrens’ drei Kopfballtore kam aber niemand heran.
Die Rückkehr der Kopfballungeheuer
“Ich glaube schon, dass viele Mannschaften in dieser Zeit wieder froh sind, wenn sie solche Spieler haben”, sagte Freiburgs Trainer Christian Streich am Donnerstag. “Ich kann mir auch nicht wirklich vorstellen, dass es sich wieder verändert. Wenn man so eine sensationelle Organisation hat wie Union Berlin und sieht, zu was für großartigen Erfolgen das führen kann, wird versucht, das nachzuahmen.” Der 58-Jährige ergänzte: “Ich glaube, dass alle sie suchen, dass sie wieder vermehrt ausgebildet werden und ihnen nochmal mehr Wert zugesprochen wird.” Behrens sei ein Spieler, “der jeden Kopfball gewinnt.”
Sein Trainer Urs Fischer beschreibt Behrens als Arbeiter, als einen Menschen, der versucht, “täglich dazuzulernen”. Und Behrens selbst? Der sagte über seinen späten Durchbruch mal: “Ich habe einfach Lust gehabt, noch etwas zu erreichen in meinem Leben. Da gehört natürlich auch ein bisschen Glück dazu, dass Union mir hier die Chance gegeben hat.” Glück – ja, aber auch Klasse auf einer wieder sehr gefragten Position.