Erstmals in der Geschichte der Leichtathletik-Weltmeisterschaften könnte eine deutsche Mannschaft ohne Medaille zurückkehren. Der Deutsche Leichtathletik-Verband gibt sich zur Halbzeit der Wettkämpfe zwar betont positiv, die Bilanz von Budapest bleibt allerdings hinter den Erwartungen zurück.
Die Auswahl des Deutschen Leichtathletik-Verbandes steuert in Budapest auf das schlechteste WM-Ergebnis ihrer Geschichte zu, droht im schlimmsten Fall sogar erstmals ohne eine einzige Medaille abzureisen – und dennoch präsentiert die Chefbundestrainerin am fünften von neun Wettkampftagen ein positives Zwischenfazit. “Wir denken, es ist ein sehr guter Start”, sagte Annett Stein bei der DLV-Pressekonferenz im Teamhotel der deutschen Mannschaft: “Mit den Leistungen […] im ersten Teil sind wir sehr, sehr zufrieden.”
Als Ausweis dieser Zufriedenheit führte Stein “sieben Top-Acht-Platzierungen, sechs persönliche Bestleistungen und zehn Saisonbestleistungen” nach bisher 18 von insgesamt 49 Finals an. Allerdings muss sich der DLV die Frage stellen, warum diese individuell überzeugenden Leistungen immer seltener reichen, um ganz vorne dabei zu sein. Denn die Athletinnen und Athleten erfüllen alle Vorgaben, wenn sie beim Saisonhöhepunkt mit Saisonbestleistungen aufwarten, ihre persönlichen Rekorde steigern oder sich an diese annähern. Es geht also nicht um Verantwortung der Aktiven dafür, dass mit jedem Wettkampftag in der stimmungsvollen Arena am Donauufer deutlicher wird, dass die deutsche Leichtathletik in immer mehr Disziplinen den Anschluss an die Weltspitze verliert oder bereits verloren hat.
Im ewigen Medaillenspiegel der 1983 erstmals ausgetragenen globalen Titelkämpfe steht Deutschland auf Rang zwei hinter den USA, DDR-Erfolge eingerechnet. Selbst ohne die deutsch-deutschen Ergebnisse vor der Wiedervereinigung stünde ein fünfter Platz zu Buche. Im aktuellen Medaillenspiegel von Budapest taucht Deutschland derweil noch nicht auf. Und im “Placing Table”, der Gesamtschau aller Top-Acht-Platzierungen, steht Deutschland aktuell gemeinsam mit Kuba auf dem geteilten neunten Rang. Selbstgestecktes Ziel des DLV ist es, bis zu den Olympischen Spielen 2028 in Los Angeles wieder zu der Top Fünf zu gehören. In Budapest gibt es jetzt in den verbleibenden 31 Entscheidungen mit Blick auf Meldeliste in nur zwei Wettbewerben noch eindeutige Chancen auf Gold, Silber oder Bronze.
Diskuswerferin Pudenz betont Konstanz und vermisst den Ausreißer
“Es fehlt die Medaille, das ist klar”, sagte Stein nun, neben ihr saßen mit den Zehnkämpfern die beiden wohl aussichtsreichsten, vielleicht auch einzig verbliebenen Medaillenkandidaten für die kommenden Tage: Niklas Kaul, Europameister 2022 und Weltmeister 2019, und Leo Neugebauer, mit seinen 8836 Punkten aus dem Juni neuer deutscher Rekordhalter und Führender der Weltjahresbestenliste. Dazu kommt Speerwerfer Julian Weber, der als ebenfalls amtierender Europameister endlich auch im Weltmaßstab in die Top Drei vorstoßen möchte.
Entsprechend schwer dürfte es in den verbleibenden Tagen werden, “das Ergebnis von Eugene zu verbessern”, wie Stein die interne Vorgabe erzielte. Dort hatte es im Vorjahr nur zwei Medaillen gegeben. Nun freute sich die Chefbundestrainerin schon darüber, dass “die meisten” deutschen Starterinnen und Starter “gleich durch in die zweite Runde” gehen – also Qualifikationen und Vorläufe überstehen und damit entweder die Top 12 in den technischen Disziplinen oder die Top 24 in den Bahnwettbewerben erreichen. Also das, was eigentlich als Minimalvoraussetzung gilt, um überhaupt nominiert zu werden.
Exemplarisch für die dem DLV enteilte Weltspitze war etwa das Diskuswurf-Finale der Frauen, das mit drei Top-10-Ergebnissen gleichzeitig zu den positiven Erscheinungen zählt. Kristin Pudenz, als beste Deutsche Sechste in einer hochklassigen Konkurrenz, merkte genau das auch an. “Drei Deutsche in den Top 10”, neben der Potsdamerin auch Shanice Craft (7.) und Claudine Vita (10.), “das hatten wir so in der Konstanz noch nie – es fehlt aber der Ausreißer nach oben.” Knapp zweieinhalb Meter fehlten Pudenz zu den Top Drei.
Eine wiederkehrende Problematik für den DLV, wobei Ausreißer nach oben bei einer WM zumeist denen gelingen, die zumindest zum erweiterten Kreis der Medaillenanwärterinnen und -anwärter zählen. Es geht dabei weniger um individuelle Leistungen Einzelner, sondern um die kollektive Leistungsfähigkeit – und die Frage, welche Muster der DLV aufbrechen muss, um den schon länger anhaltenden Abwärtstrend zu stoppen und umzukehren.
Ausrüstung von Goldhoffnung Neugebauer bleibt am Flughafen hängen
Erst danach kommen auch individuelle Lektionen, wie sie etwa Hochspringer Tobias Potye aus seinem Finale, das er mit starken 2,33 Meter und auf dem fünften Platz beendet hatte. Damit lieferte er gemeinsam mit Geher Christopher Linke (Platz fünf über 20 Kilometer) das bislang beste DLV-Ergebnis dieser WM ab. Der Münchner sagte, vor den drei Fehlversuchen über 2,36 Meter mit dem Grübeln angefangen zu haben. “Da war klar”, wenn er 2,36 überspringen würde, “dass das eine Medaille ist. Und dann war das plötzlich der Gedanke”, statt sich auf die vermeintlich “simple Aufgabe” zu besinnen, einfach bloß über die Latte zu springen. Allein: Potye ist schon einer der Ausreißer im deutschen Team, weil er überhaupt in die Verlegenheit kam, eine Medaille im Bereich des Möglichen zu sehen.
Chefbundestrainerin Stein sprach auch zum wiederholten Male über die vielen Verletzten, die dem DLV in Budapest fehlen: “Wir wissen ja, dass wir mit einem geschwächten Team an den Start gegangen sind, weil wir im Vorfeld doch eine Reihe von Verletzungen verschmerzen mussten.” So mussten etwa Weitsprung-Weltmeisterin Malaika Mihambo, 5000-Meter-Europameisterin Konstanze Klosterhalfen, die beiden Vize-Europameister Bo Kanda Lita Baehre (Stabhochsprung) und Lea Meyer (3000 Meter Hindernis) sowie mit Alexandra Burghardt und Lisa Mayer die Hälfte der 4×100-Meter-Goldstaffel von der EM in München allesamt für die WM passen.
Und als wäre all das nicht schon schwierig genug, steht mit dem Weltjahresbesten Leo Neugebauer der statistisch einzige klare Goldkandidat im DLV-Aufgebot nun auch noch vor einer besonderen Herausforderung: Seine Koffer sind am Münchner Flughafen hängengeblieben, bisher hat es nur eines von zwei Aufgabe-Gepäckstücken ins Teamhotel im 12. Bezirk Budapests geschafft. Die zur gleichen Zeit angereisten Sprintstaffeln teilen offenbar das Schicksal, die DLV-Verantwortlichen arbeiteten intensiv an der schnellen Nachlieferung, wie Medienchef Peter Schmitt berichtete.
Neugebauer allerdings wartet unter anderem noch auf diverse Paare Spikes und Wurfschuhe, die er für den Wettkampf dringend benötigt, die jedoch angesichts ihrer Anzahl schlicht nicht ins Handgepäck gepasst hätten. Immerhin: Hilfe ist unterwegs, der Vater des 23-Jährigen bringt die Ersatzausrüstung mit. Und zumindest war Niklas Kaul nicht von den Logistikproblemen betroffen, er war ohne Probleme von Frankfurt aus angereist. Gemeinsam mit Speerwerfer Julian Weber stehen sie nun im Fokus, die erste deutsche Nullrunde der WM-Geschichte noch zu verhindern. Wobei Neugebauer in seiner gewohnt entspannten Art versicherte, sich von diesen Wirrungen nicht aus dem Konzept bringen zu lassen.