Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine wird über die Feiertage und zum Jahreswechsel in vielen Familien diskutiert werden. Für Debatten unter dem Weihnachtsbaum finden Sie hier einige der gängigen Fragen und Mythen – und gute Argumente, um die Diskussion zu führen.
“Immer dieser Krieg und diese Gewalt, das ist so schlimm, das muss doch mal aufhören.”
Ja, es ist schlimm. Putin hat die Ukraine brutal angegriffen und die Ukraine ist gezwungen, sich zu verteidigen. Leider lässt Putin von seinem Ziel der Vernichtung der Ukraine nicht ab. Putin hat diesen Krieg angefangen, er könnte ihn jederzeit beenden, wenn er wollte.
Wir in Deutschland würden sicher auch nicht Bayern und Baden-Württemberg weggeben, damit ein Angreifer endlich Ruhe gibt, schon gar nicht an ein Regime, das foltert, vergewaltigt, entführt. Wir sollten so etwas nicht von den Ukrainern erwarten.
Krieg und Gewalt werden erst aufhören, wenn Putins Truppen aus der Ukraine vertrieben sind. Nur wenn die Ukraine stark genug ist, kann sie für den Frieden sorgen, den wir uns wünschen. Dabei müssen wir helfen.
“Aber noch nie hat jemand gegen Russland gewonnen – weder Napoleon noch Hitler. Man kann gegen Russland gar nicht gewinnen.”
Niemand hat Russland angegriffen. Niemand will nach Moskau marschieren. Niemand will Russland etwas Böses.
“Gewinnen” heißt hier nur, die russischen Truppen vom Gebiet der Ukraine zurückzudrängen. Man sieht ja, dass Russland schon jetzt mehr als die Hälfte des eroberten Gebiets wieder verloren hat. Es ist also möglich.
“Naja, die Leute sollen alle für die Ukraine spenden und diese Frau von dem Selenskyj, die geht in Paris für 40.000 Euro luxuriös einkaufen!”
Olena Selenska war vom 12. bis zum 14. Dezember gemeinsam mit drei ukrainischen Ministern in Paris für eine Konferenz zur Soforthilfe für den Winter. Am 12. Dezember verbreiteten Accounts in sozialen Netzwerken die Information, sie habe für 42.000 Dollar eingekauft. Diese Accounts hatten zuvor beispielsweise auch homophobe Meldungen über Präsident Emmanuel Macron oder Infos von Covid-Leugnern verbreitet. Der erste Post stammte von einem “Oliver de Fabron” aus St. Petersburg in Florida in den USA. Einige unseriöse Internetseiten haben auf der Grundlage dieser Posts berichtet. Es gibt keinerlei Belege für so eine Shoppingtour. In seriösen Medien findet sich dazu nichts.
“Man muss bei dem Krieg auch die Vorgeschichte anschauen, die Ukrainer sind auch nicht unschuldig.”
Die Ukrainerinnen und Ukrainer wollen seit einem Referendum mit 90 Prozent Zustimmung im Dezember 1991 eigenständig und unabhängig von Russland leben. Russland hat seitdem immer wieder versucht, die Unabhängigkeit der Ukraine einzuschränken.
Im Jahr 2004 setzte Putin sich für die Wahl des russlandfreundlichen Politikers Wiktor Janukowytsch ein, der versuchte, sich mit Wahlfälschungen durchzusetzen. Dies führte zur “Orangen Revolution”.
Janukowytsch wurde 2010 doch noch zum Präsidenten gewählt und lehnte es im Herbst 2013 plötzlich ab, ein fertig verhandeltes Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der EU zu unterschreiben, offenbar, weil er von Putin viel Geld versprochen bekam. Daraufhin begannen die Proteste des “Euromaidan”.
Nachdem Janukowytsch 100 Demonstranten erschießen ließ, floh er aus dem Land. Russland verlor den politischen Einfluss auf die Ukraine und griff zu militärischen Mitteln, mit der Annexion der Krim und der militärischen Intervention im Donbass. Das ist die Vorgeschichte.
“Die Amerikaner und die NATO haben sich doch da eingemischt und Aufstände unterstützt und so. Der Putin hatte doch gar keine Wahl als sich zu wehren.”
Die Orange Revolution und der Euromaidan wurden von der ukrainischen Zivilgesellschaft getragen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer wollen leben wie wir, frei sein und ein Teil Europas. Dafür haben sie demonstriert und dafür kämpfen sie auch jetzt.
Eigentlich wollen die Ukrainer nur selbst entscheiden, wie sie in ihrem eigenen Land leben wollen. Für Russland war das zu keiner Zeit eine Bedrohung. Offenbar sind Demokratie und Wohlstand direkt an der Grenze zu Russland aber eine Gefahr für das System Putin.
“Die Ukrainer haben doch selbst seit 2014 im Donbass die Städte beschossen, da den Strom abgeschaltet und Zivilisten umgebracht.”
Solche Anschuldigungen kommen aus Russland, von unabhängigen Quellen werden sie nicht gestützt. Weder die OSZE-Beobachtermission, die mit russischem Einverständnis seit 2014 die Lage beobachtet, noch der Bericht von UNHCHR vom September 2021 sehen Anzeichen für einen Genozid.
Der größte Teil der Opfer des Kriegs im Donbass kam in den Jahren 2014 und 2015 ums Leben. Danach wurde die Zahl der Opfer immer geringer. Gemäß dem letzten Bericht der OSZE kamen vom 1. Januar 2017 bis Mitte September 2020 insgesamt 161 Zivilisten ums Leben – etwa gleich viele auf beiden Seiten. Etwa die Hälfte der Opfer starben durch Unfälle mit Minen und Blindgängern.
“Viele der Waffen, die wir an die Ukrainer liefern, sind schon auf dem Schwarzmarkt aufgetaucht!”
Es stimmt, dass Europol und andere Sicherheitsbehörden vor dem möglichen Schmuggel vor allem von Kleinwaffen gewarnt haben. Gleichzeitig sind angebliche Angebote im Darknet, zum Beispiel von Stinger-Raketen in Bremen, einem Auto eines angeblichen Albaners mit Javelin-Panzerabwehrwaffen und vermeintlich gestohlene französische Caesar-Haubitzen, ganz klar als Fakes und gezielte Desinformation aufgedeckt worden. Bisher liegen keine konkreten Beweise für Schmuggel westlicher Waffen aus der Ukraine vor.
“Die Ukraine ist aber total korrupt! Und wir sollen da helfen?”
Ja, die Ukraine hat seit vielen Jahren große Probleme mit Korruption. Seit 2004 wurde jedoch bereits sehr viel dagegen unternommen. Insbesondere mit den Reformen seit 2015 wird Korruption besser bekämpft und eine starke staatliche Struktur zur Bekämpfung der Korruption aufgebaut. Die ukrainische Zivilgesellschaft und die ukrainische Öffentlichkeit machen enormen Druck, um die Korruption einzudämmen.
Obwohl die Korruption in Russland nach allen Indizes deutlich höher ist als in der Ukraine, versucht Russland immer wieder das Bild von der “korrupten” und “gescheiterten” Ukraine zu verbreiten.
Für die völkerrechtliche Bewertung eines Angriffskrieges und unsere Pflicht zur Unterstützung des Angegriffenen macht die Höhe der Korruption im Übrigen keinen Unterschied.
“Von wegen – Selenskyj war an der Front. Das ist doch alles mit einem Greenscreen produziert! Man darf doch nicht alles glauben!”
In den ersten Wochen des Krieges, als russische Mordkommandos versuchten, Präsident Selenskyj umzubringen und die russischen Truppen bereits direkt bei Kiew waren, nahm Selenskyj einige seiner Videos mit einem Greenscreen-Verfahren auf. Er verfügt über ein entsprechendes Studio und natürlich existieren davon Fotos. Auch hielt Selenskyj einmal eine Ansprache vor einem Greenscreen, damit sie als Hologramm in mehrere Städte der Ukraine gleichzeitig übertragen werden konnte.
Der Besuch in Bachmut an der Front im Dezember wie auch weitere Truppenbesuche und Termine in der ganzen Ukraine waren physische Besuche des Präsidenten. Das ist mit zahllosen Fotos und Videos, Handybildern, begleitenden Journalisten und vielem mehr ganz einfach zu belegen. Die Behauptungen alles sei “Greenscreen” sind haltlos.
“Naja, die Krim und auch die Ukraine, die Kiewer Rus und so, das ist doch alles irgendwie schon immer Russland gewesen. Wir sollten uns da einfach raushalten!”
Die Kiewer Rus des 9. Jahrhunderts war ein multiethnisches Reich und ist nicht der Ursprung eines nationalrussischen Staates. Moskau stieg als Fürstentum erst im 14. und 15. Jahrhundert zur Vormacht im Gebiet der ehemaligen Rus’ auf. Putins Russland deutet die Geschichte gezielt um und instrumentalisiert sie. Putin behauptet, Moskau habe die Aufgabe, die durch “Zufälle der Geschichte” abgespaltenen Teile der “russischen Welt” wieder einzusammeln. Damit rechtfertigt er das imperiale Streben Russlands.
Die Krim war ein islamisch geprägter Vasallenstaat des Osmanischen Reiches und wurde Ende des 18. Jahrhunderts vom russischen Kaiserreich annektiert. Ab 1921 war die Krim eine autonome Republik innerhalb der Sowjetunion und wurde ab 1954 als Oblast Krim an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik angeschlossen. Ab 1992 war die Krim wieder eine “Republik Krim”, ab 1994 autonome Republik innerhalb der Ukraine.
Das Völkerrecht geht davon aus, dass Menschen innerhalb eines Staates selbst bestimmen können sollen, wie sie leben wollen. Die Ukraine ist ein souveräner Staat und die Menschen in der Ukraine können selbst entscheiden, wie sie leben wollen und welchen Bündnissen sie angehören. Diese Grundsätze müssen wir verteidigen.
Bonus: “Ach, dieser Selenskyj, das ist doch ein Schauspieler mit einer Koksnase. Die betrügen uns doch alle!”
“Onkel Heiner, du liest eindeutig zu viel Müll im Internet. Trink lieber deinen Eierpunsch!”
Nico Lange ist Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz. Er lebte und arbeitete lange in der Ukraine und in Russland.