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Wie Frauen 2022 den Iran veränderten

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Seit Jahrzehnten unterdrückt das Mullah-Regime die Frauen im Iran. Doch 2022 kämpfen sie zurück. Was mit einem Kopftuch begann, wurde zur größten feministischen Revolution des Landes. Und sie ist noch nicht vorbei.

Als die iranische Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi vor mehr als vier Jahrzehnten die Tageszeitung aufschlug, starrte sie auf den Entwurf für ein islamisches Strafgesetzbuch. In diesem Moment dämmerte es der Juristin, dass sich ihr und das Leben aller Frauen im Iran auf einen Schlag ändern würde. “Die grauenvollen Gesetze, gegen die ich den Rest meines Lebens ankämpfen sollte, starrten vom Papier aus zurück”, beschreibt Ebadi den 11. Februar 1979 in ihrem Buch “Mein Iran”.

Darin zählt sie auf, was die Gesetze beinhalteten. Das Leben einer Frau sollte nur noch die Hälfte des Lebens eines Mannes wert sein. Stirbt eine Frau bei einem Autounfall, erhält ihre Familie daher auch nur die Hälfte der finanziellen Entschädigung, die bezahlt worden wäre, wenn das Opfer ein Mann gewesen wäre. Auch vor Gericht sind die Aussagen von zwei Frauen nur so viel wert wie die eines Mannes. Frauen im Iran, so das Gesetzeswerk, benötigten die Erlaubnis ihrer Männer, um sich scheiden zu lassen, während Männer vier Ehefrauen haben und sie jederzeit wieder verlassen durften. “Kurz gesagt, die Gesetze drehten die Uhr um 1400 Jahre zurück zu den frühen Tagen der Ausbreitung des Islam”, schreibt Ebadi.

So wie Ebadi wachten Millionen von Frauen nach der iranischen Revolution von einem Tag auf den anderen in einer antiquierten Welt auf. Keiner glaubte damals, dass es nach der Schah-Monarchie noch schlimmer kommen könnte. Doch das, wofür die Revolutionäre gekämpft hatten – freie Wahlen und Gerechtigkeit – trat nie ein. Stattdessen lernte das Land schnell, dass sie mit Revolutionsführer Ruhollah Chomeini ihr Vertrauen dem Falschen geschenkt hatten. Im Buch schreibt Ebadi, dass sie an jenem Tag ihren Ehemann angeschaut und gewusst habe, dass sie ab sofort ein Objekt und kein Mensch mehr sein werde.

“Es ist viel mehr als das Kopftuch”

Was folgte, war die islamistisch geprägte Herrschaft des Mullah-Regimes: Zwangsverschleierungen von Frauen, Unterdrückung, Gewalt gegen das eigene Volk. Das änderte sich auch nicht nach Chomeinis Tod 1989. Seitdem herrscht mit der gleichen konservativen Härte Ajatollah Ali Chamenei bis heute. Bei seiner Machtübernahme waren die meisten der jungen Iranerinnen und Iraner, die heute die Revolution gegen das Regime führen, nicht einmal geboren. Bilder, auf denen Frauen in kurzen Röcken und mit offenem Haar 1970 auf einem Universitätscampus in Teheran sitzen, kennen sie nur von Fotos.

Proteste gegen die Diktatur der Mullahs gab es immer wieder im Iran. Doch nie zuvor in diesem Ausmaß. Der Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Jîna Amini veränderte am 16. September über Nacht alles. Die junge Frau wurde zum Symbol eines feministischen Befreiungskampfes, nachdem sie von der iranischen Sittenpolizei getötet worden war. Sie war festgenommen worden, weil ihr Kopftuch nicht richtig saß. Aus Solidarität mit ihr und aus Protest gegen die Unterdrückung gingen immer mehr Frauen im Iran ohne Kopftuch auf die Straßen, schnitten sich öffentlich die Haare ab – ein Ausdruck tiefer Trauer.

“Die Frauen führen diese Revolution an”, sagt Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal ntv.de. “Sie zeigen uns, was Feminismus bedeutet.” Der Mut der Frauen, auf Leben und Tod für ihre Rechte einzustehen, beeindruckt weltweit Millionen von Menschen. Der Slogan dieser Revolution lautet “Jin, Jiyan, Azadî!” Das ist kurdisch und bedeutet “Frauen, Leben, Freiheit”. Die Parole ist auf allen Straßen zu hören, wo sich Menschen mit den iranischen Bürgern solidarisieren. “Es ist viel mehr als nur das Kopftuch. Es ist das islamische Strafgesetzbuch, das den Frauen das Leben entzogen hat”, sagt Tekkal.

Regime reagiert mit Gewalt gegen Kinder

In den vergangenen 43 Jahren gab es immer mal wieder Aufstände, die jedes Mal gewaltsam vom Regime niedergeschlagen wurden. Doch dieses Mal sei es anders. “Die Menschen gehen nicht mehr nach Hause”, sagte Tekkal Anfang Oktober im Interview mit ntv.de. “Als Amini umgebracht wurde, wurde eine Minderheit in der Minderheit umgebracht: eine Sunnitin, eine Kurdin, eine Frau. Und der ganze Iran sagt: ‘Wir sind Jîna Mahsa Amini.'” Am 25. Dezember war ihr Tod 100 Tage her. Seitdem gehen Männer, Frauen und Kinder auf die Straßen, trotz der massiven Gewalt, mit der die Polizei gegen die Demonstranten vorgeht.

Denn seit Beginn der Proteste am 16. September sind Schätzungen zufolge mehr als 550 Menschen getötet worden, die meisten davon Jugendliche und Kinder. In den kurdischen Gebieten im Nordwesten des Landes spielen sich bürgerkriegsähnliche Szenen ab. In der kurdischen Stadt Mahabad sind Mitte November Sicherheitskräfte mit Panzer einmarschiert und haben wahllos auf Demonstranten geschossen. Trotz des eingeschränkten Internets im Iran tauchen in den sozialen Netzwerken täglich neue Videos auf, die die barbarischen Gewaltausbrüche der iranischen Polizei gegen das eigene Volk dokumentieren. Mindestens 18.000 Demonstranten nach Angaben von Menschenrechtlern bereits festgenommen.

Die Solidarität mit den Protesten erreichte auch die Fußball-WM der Männer in Katar. Beim Eröffnungsspiel gegen England am 21. November schwiegen die Iraner bei ihrer Nationalhymne. Als Konsequenzen für die offene Unterstützung der Spieler drohte die iranische Revolutionsgarde dem Nationalteam mit “Gewalt und Folter” gegen ihre Familien, wenn sie die Nationalhymne nicht mitsingen würden. Dass das Regime vor berühmten Sportlern, Künstlern und Schauspielern nicht haltmacht, beweisen auch zahlreiche andere Fälle. Wer sich der Revolution anschließt, wird bestraft.

Sanktionen sind zu schwach

Am 8. Dezember schockierte das Regime die Welt mit der Hinrichtung des 23-jährigen Rap-Musikers Mohsen Shekari. Es war die erste Hinrichtung im Zusammenhang mit den Demonstrationen im Iran. Wenige Tage später wurde der ebenfalls 23-jährige Majidreza Rahnavard in der Stadt Maschhad im Nordosten des Landes öffentlich gehängt. Beiden wurde “Kriegführung gegen Gott” vorgeworfen. Im Fall von Rahnavard vergingen zwischen Festnahme und Tötung Berichten zufolge nur 26 Tage. Einen Rechtsbeistand hatte er nicht.

Die Tötung der beiden jungen Männer lösten im In- und Ausland Entsetzen aus. Doch sie werden voraussichtlich nicht die einzigen bleiben. Mindestens 23 weitere Demonstranten wurden von der iranischen Justiz zum Tode verurteilt, täglich werden es mehr. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bezeichnet die Hinrichtungen als Einschüchterungsversuch. “Je schwächer das Regime dasteht, desto gewaltsamer gehen sie gegen die Demonstranten vor”, sagte auch Menschenrechtsaktivistin Ebadi der “Süddeutschen Zeitung”.

Wegen der schweren Menschenrechtsverletzungen hat die EU Sanktionen gegen Verantwortliche in dem Land verhängt, etwa 20 Personen und eine Organisation sind betroffen. Zuvor wurden bereits Sanktionen gegen den Iran wegen der Unterstützung des russischen Kriegs gegen die Ukraine beschlossen. Für viele Iranerinnen im Exil ist das ein erster, wichtiger Schritt. Doch es reicht noch nicht, um den Menschen dort konkret Hilfe zu leisten.

Frauenrechte sind keine Garantie

Nicht nur Männer werden mit Hinrichtungen oder scharfer Munition durch die Polizei getötet. Am 18. Dezember berichtete die “New York Times” von einer 14-Jährigen, die im Gefängnis so schwer vergewaltigt wurde, dass sie an den Folgen starb. Sie hatte in der Schule ihr Kopftuch abgenommen, wurde mit Kameras identifiziert und festgenommen. Ihre Mutter, die den Fall veröffentlichen wollte, ist seitdem verschwunden.

Trotz dieser Grausamkeiten glaubt und hofft die Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal, dass die Proteste lange anhalten werden. “Die Demonstranten werden nicht aufhören und sind bereit, Opfer zu bringen und zu sterben. Weil das, wofür sie kämpfen, größer ist als sie selber.” Aber wie lange, das hänge auch von Europa und dem liberalen Westen ab. “Was die Menschen sich im Iran wünschen ist, dass wir hinsehen und dass wir handeln. Sie wollen, dass wir das Regime als das sehen, was es ist – ein Unrechtsregime.”

Was die Geschichte des Iran zeigt, ist, dass über Jahre erkämpfte Frauenrechte keine Garantie auf ewige Freiheit sind. Gesetze können sich ändern und Frauen sich ihrer Rechte nie sicher sein – auch im Westen nicht. Für die Iranerinnen und Iraner kann es im nächsten Jahr nur eine Lösung geben: das Ende des Mullah-Regimes nach fast 44 Jahren.

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