Der schwarze Grüne, ein schwäbisches Original und vor allem: Garant der grünen Macht im Südwesten. Winfried Kretschmann wird 75 Jahre alt und beteuert, kein bisschen amtsmüde zu sein. Nachfolge-Kandidaten gibt es drei, doch nur einer kann selbst entscheiden, ob er es werden will
Wären die Grünen mehr wie Winfried Kretschmann, das Desaster vom vergangenen Wahlsonntag hätte es so wohl nicht gegeben: Klatsche in Bremen, wo die Verkehrssenatorin während des Wahlkampfes das beliebte Gratis-Kurzzeitparken strich, die sogenannte Brötchentaste. Hinzu kam die Debatte über soziale Härten durch das Verbot fossiler Heizungen und die Trauzeugen-Affäre im Robert Habecks Wirtschaftsministerium. Kretschmanns Gespür für die Stimmung in der Bevölkerung und seine von Affären unbelastete zwölfjährige Regierungszeit in Baden-Württemberg hätten ihn vor Fehlern bewahrt, wie sie der Partei zuletzt in Bund und Bremen unterlaufen sind. Vielen Grünen ist der Realo Kretschmann andererseits viel zu nah dran an Leuten und Wirtschaft, geht zu viele Kompromisse ein. Doch auch dem linken Grünen-Flügel ist klar: Einer wie Kretschmann, der an diesem Mittwoch 75 Jahre alt wird, ist für die Partei schwer zu ersetzen.
Die gute Nachricht aus Grünen-Sicht: So schnell muss gar keine Nachfolgeregelung getroffen werden. “Es hat mir noch nie jemand deutlich gemacht: ‘Jetzt hör endlich auf'”, sagt Kretschmann selbst auf einer Pressekonferenz im März. Er wolle seine noch dreijährige Amtszeit zu Ende bringen, sagte der Ministerpräsident. Obwohl er durchaus auf anderslautende Forderungen hören würde. “Das wichtigste ist, dass ich an meinem Amt nicht klebe.”
Vom Partei-Mitgründer zum ersten Ministerpräsidenten
Wann immer es so weit ist, es wird das Ende einer außergewöhnlichen Politiker-Karriere sein. Kretschmann wird 1947 als Sohn ostpreußischer Flüchtlinge in Spaichingen geboten. In der südschwäbischen Provinz geht es traditionsbewusst zu, die Menschen wissen, wer schon immer hier ansässig war und wer “neigschmeckt” ist. Das Mundart-Wort für Zugezogene bleibt schonmal bis in die dritte Generation haften. Kretschmann wird in ärmliche Verhältnisse geboren, wächst tief katholisch auf und besucht ein strenges katholisches Internat. Als Student verirrt er sich in den 70ern in das Milieu linksradikaler K-Gruppen, die er rückblickend als “Sekten” bezeichnet. Beinahe hätte er wegen des Radikalenerlasses nicht Lehrer werden dürfen.
1979 zählt Kretschmann zu den Mitbegründern der Grünen in Baden-Württemberg, wo die Partei 1980 erstmals Parlamentssitze in einem Flächenland gewinnt. Ende der 80er arbeitet er für Hessens Umweltminister Joschka Fischer eineinhalb Jahre als Referent, gehört anschließend mit kurzer Unterbrechung durchweg dem baden-württembergischen Landtag an und wird schließlich Fraktionsvorsitzender, von 2002 bis 2011. Immer wieder gerät er in diesen Jahrzehnten als exponierter Vertreter des Realo-Flügels mit den Linken in seiner Partei aneinander.
Letztlich schwenkt der Landesverband im Südwesten auf die Realo-Spur ein. Als im Jahr 2010 der Konflikt um das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 eskaliert und im März 2011 das Atomkraftwerk Fukushima in die Luft geht, nutzt Kretschmann die Dynamik. Er wird im Mai zum ersten grünen Regierungschef eines Bundeslandes gewählt. Erst regiert Kretschmann mit der SPD, nach zwei weiteren Wahlsiegen jeweils mit der CDU. Das lange Zeit stramm konservative Baden-Württemberg ist zu einer Hochburg der Grünen geworden und Kretschmann als Landesvater derart beliebt, dass er aus allen Parteilagern Wähler an sich bindet.
“Ich bin kein Monarch”
Natur- und Klimaschutz mit und nicht gegen die Wirtschaft umzusetzen, ist Kretschmanns Credo. Seiner Partei ist er oft Mahner, der Pragmatismus predigt. Auch das gefällt nicht allen, doch an der Autorität des dreifachen Vaters und Großvaters ist schwer zu rütteln. Anders als die Grünen, die mit dem Image einer abgehobenen Großstadtpartei zu kämpfen habe, gilt Kretschmann als erdverbunden. Die Menschen dürften von ihm mehr Bilder mit Wanderschuhen oder im Heimwerker-Outfit im Kopf haben als mit Anzug und Krawatte. Dabei war “The Länd”, wie sich das Ländle Baden-Württemberg in einer penetranten Imagekampagne vermarktet, unter Kretschmanns Ägide unvermindert erfolgreich. Die Zuwächse beim Bruttoinlandsprodukt übertrafen die der Windkraftanlagen deutlich.
Doch Kretschmanns 75. Geburtstag lenkt den Blick auf das unausweichliche Ende. Spätestens nach dieser Legislaturperiode ist Schluss für den Regierungschef. Dass er noch vor der nächsten Landtagswahl einem Nachfolger Platz macht, der dann als schon etablierter Ministerpräsident zur Wahl antreten kann, gilt als wahrscheinlich – ungeachtet Kretschmanns Beteuerungen, durchziehen zu wollen. Die Frage ist nur: Wer? “Ich bin kein Monarch und bestimme meinen Nachfolger nicht selber”, macht sich Kretschmann in dieser Frage einen schlanken Fuß. Es ist aber auch nicht so, dass er gar kein Mitspracherecht hätte.
“Büroklammer” gegen Hip-Hop-Fan
Gehandelt wird der Grünen-Fraktionsvorsitzende im Landtag, Andreas Schwarz. Der 43-Jährige kommt aus der Verkehrspolitik, hat sich aber den Ruf erarbeitet, in allen relevanten Themen bewandert zu sein. Allerdings wird er auch als eher trockener Charakter mit betont bürgerlichem Auftreten beschrieben. Während sich andere Grüne auf die Fahne schreiben, in früheren Jahren an teils konfliktreichen Protesten gegen Umweltzerstörung und Atomkraft teilgenommen zu haben, ist Schwarz’ wildeste Erinnerung eine “Schwarzfahraktion” zur Durchsetzung günstigerer Ticketpreise. Dafür aber gilt die Grünen-Fraktion als seriös geführt. Die linke “taz” porträtierte Schwarz als “Büroklammer”.
Deutlich charismatischer ist da schon ein anderer potenzieller Kandidat: Finanzminister Danyal Bayaz ist rege unterwegs auf Instagram und in anderen sozialen Medien, tritt in Talkshows auf und ist regelmäßig in Podcasts zu hören. Der Sohn eines türkischen Diplomaten und einer deutschen Mutter referiert gleichermaßen souverän über den Landeshaushalt wie über deutschsprachigen Hip-Hop. Der BWL’er könnte seinem Auftreten nach auch genauso gut der FDP angehören und vertritt damit ebenso wie Kretschmann und Schwarz das Bild der wirtschaftsfreundlichen Grünen.
Allerdings ist der 39-jährige Ehemann der bayerischen Grünen-Fraktionschefin Katharina Schulze in Baden-Württemberg nicht genauso gut vernetzt wie Schwarz, der seit Schülertage in der Kommunalpolitik unterwegs war und als Fraktionschef qua Amt einen engen Austausch mit jedem der 57 Grünen-Abgeordneten pflegt. Bayaz brachte statt sich selbst seinen Freund und Trauzeugen ins Spiel für die Kretschmann-Nachfolge: Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir. Der bringe “alles mit, was ein erfolgreicher Ministerpräsident braucht”, sagte Bayaz Ende Dezember dem Staatsanzeiger Baden-Württemberg.
Beliebt, aber unsichtbar
Tatsächlich gilt es als ausgemacht, dass Özdemir den Job haben kann, wenn er nur will. Der frühere Grünen-Vorsitzende holte bei der Bundestagswahl 40 Prozent der Stimmen in seinem Stuttgarter Wahlkreis und rangiert inzwischen regelmäßig unter den beliebtesten Kabinettsmitgliedern. In einer Forsa-Umfrage im Auftrag von RTL und ntv zog der 57-Jährige vergangene Woche an Habeck vorbei und liegt mit 41 von 100 möglichen Beliebtheitspunkten nur einen Punkt hinter Bundesaußenministerin Annalena Baerbock.
Özdemir ist in seinem Amt bislang kaum öffentlich angeeckt. Der bekennende Veganer liefert sich zwar Konflikte mit den Agrarverbänden etwa um Tierhaltungsvorschriften, die finden aber eher abseits des politischen Rampenlichts statt. Die “Zeit” witzelte über den “Hidden Cempion” – hidden champion ist Englisch und bedeutet versteckter oder unbemerkter Meister -, um den Widerspruch aus Beliebtheit und Profilschwäche zu beschreiben.
Warum nicht mal ein 70-Jähriger?
Wollte da ein Bundesminister ja nicht anecken, um sich im Südwesten alle Türen offenzuhalten? Falls ja, tut Özdemir momentan einiges dafür, doch noch als Kämpfer aufzufallen. Mit dem geplanten Verbot von Werbung für ungesunde Lebensmittel, die sich direkt an Kinder wendet, bringt Özdemir gleich zwei mächtige Branchen gegen sich auf: die Werbewirtschaft und die Lebensmittelindustrie. Union und FDP wittern eine weitere Gelegenheit, die Grünen als “Verbotspartei” zu titulieren. Profilbildung betrieb Özdemir im laufenden Jahr auch auf seinem gemeinsamen Dschungeltrip mit Robert Habeck oder als Oberleutnant bei einer viertägigen Wehrübung. Grün im Flecktarn, das sollte auch bei konservativen Wählern gut ankommen.
Drei Jahre sind es bis zur Landtagswahl in Baden-Württemberg. Drei Kandidaten werden für Kretschmanns Nachfolge gehandelt: “Alle, die im Gespräch sind, sind zu Recht im Gespräch”, freut sich Kretschmann auf der Pressekonferenz Ende März. Er wundere sich aber, dass Landesverkehrsminister Winfried Herrmann nie als Nachfolger gehandelt werde. Herrmann mache schließlich einen hervorragenden Job.
Doch der neben ihm sitzende 70-Jährige winkt ab: Das wäre ja kein Generationenwechsel, sagt Herrmann. Da fällt Kretschmann der US-Präsident ein, der sich mit seinen 80 Jahren gerade auf eine zweite Amtszeit bewirbt: “Denk mal an den Joe Biden, mein Lieber”, sagt der Ministerpräsident lachend. “Überleg es dir nochmal.” Dem King of the Länd kann es offenbar gar nicht genug Bewerber auf sein Erbe geben.