Ein Mann der Front, historische Parallelen und ein Krieg der freien Welt für Generationen: So tritt Ukraines Präsident Selenskyj vor den Kongress der USA. Mit dessen Hilfe soll der russische Aggressor im kommenden Jahr vertrieben werden.
Mit Superlativen spart Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj vor dem US-Kongress wahrhaftig nicht. “Dieser Krieg wird entscheiden, in welcher Welt unsere Kinder und Enkel leben werden.” Er bittet für die Verteidigung gegen die russische Invasion um weitere Hilfen, mehr Waffen und Geld. Er zieht Parallelen zur US-Geschichte, dem Unabhängigkeitskrieg, zu den US-Soldaten, die 1944 die Ardennenoffensive der Nazis zurückschlagen; berichtet von Millionen Menschen, die ohne Strom, Heizung und Wasser die Weihnachtstage bei Kerzenschein verbringen werden, weil russische Raketen und Drohnen kritische Infrastruktur zerstören.
Selenskyj fuhr vor seinem Flug nach Washington in den schwer umkämpften Donbass, zeichnete dort Soldaten mit Medaillen aus und hielt eine unterstützende Ansprache an sie. Von dort hat er eine unterschriebene ukrainische “Kampffahne” ins Kapitol von Washington gebracht: “Sie haben mich gebeten, diese Flagge den Abgeordneten und Senatoren zu bringen, deren Entscheidungen Millionen Leben retten können.” Die Anwesenden stehen auf, jubeln und klatschen. Klarer hätte es Selenskyj kaum ausdrücken können.
Wenige Stunden zuvor saß er im Weißen Haus mit US-Präsident Joe Biden, sagte ein paar Worte an die Presse, sie sprachen zwei Stunden persönlich, dann gab es eine Pressekonferenz. Beim vorherigen Besuch im Jahr 2021 war er im Anzug gekommen. Diesmal trägt er Militärgrün, Schuhwerk fürs Gelände und ein ukrainisches Symbol auf der Brust. Selenskyj ist ein Medienprofi, er weiß um die Kraft der Bilder, in den Vereinigten Staaten wohl noch mehr als in anderen Unterstützerländern: Da kommt ein Präsident, aber nicht aus seinem Palast. Sondern von der Front. Er weiß, wovon er redet.
“Internationaler Sozialschmarotzer”
Sein Besuch in den USA kann den Krieg mit entscheiden, er muss überzeugen. Bald wird der bisherige Kongress seine Arbeit beenden, im kommenden Jahr tritt der neu gewählte zusammen. Es gibt einige republikanische Abgeordnete und Senatoren, die sagen: Was gehen uns die Probleme in Europa an, wir sollten erst mal die eigenen Straßen fegen. Donald Trump junior sitzt zwar nicht im Kongress, trieb die Skepsis aber vor dem Besuch aus Europa auf die Spitze: “Selenskyj ist praktisch ein undankbarer internationaler Sozialschmarotzer”, pöbelte er.
Selenskyj ist gut informiert, hält im Kongress dagegen, ohne die Kritik zu erwähnen: “Euer Geld ist keine Wohlfahrt, es ist eine Investition in die globale Sicherheit und Demokratie”, es werde mit Verantwortungsbewusstsein verwendet. Ohne die Unterstützung der US-Amerikaner würde die Ukraine diesen Krieg wohl nicht durchhalten. Dafür bedankt er sich mehrfach. “Wir werden gewinnen, weil wir vereint sind”, sagt Selenskyj, die Ukraine, die USA, die freie Welt. Es sei eine Frage der nationalen Sicherheit für die Vereinigten Staaten.
Selenskyj weiß, wie US-Politik funktioniert, regelmäßig telefoniert er mit Biden. Kaum einer hat so viel Erfahrung über die Wege und Mechanismen im Kongress wie der Präsident, der zuvor Jahrzehnte als Senator dort saß und acht Jahre Vizepräsident war. Also wird Selenskyj nicht müde zu betonen, dass die Ukraine als Außenposten der NATO kämpft. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis Russlands Präsident Wladimir Putin die NATO angreife, sagt er. Und ohne es auszusprechen, meint er damit: Dies würde den Einsatz von US-Truppen nötig machen und den Krieg unkalkulierbar eskalieren. “Wir müssen sie jetzt stoppen!”, sagt er eindringlich.
Neue Beziehungsphase, neue Kriegsphase
Konventionelle Kriege eskalieren langsam. Bleibt der schnelle Erfolg einer Seite aus, investieren beide Seiten immer mehr. Laut Selenskyj wäre ein Sieg im Kampf um die Überreste der Stadt Bachmut, der seit Mai tobt, ein Wendepunkt im Krieg: “Jeder Zentimeter dort ist mit Blut getränkt”, berichtet er. “Aber wir sind standfest.” Es brauche vor allem mehr Artillerie.
Die Ukraine braucht permanente Unterstützung; Hilfsgelder von internationalen Verbündeten, Waffen im Ringtausch mit NATO-Staaten und Munitionsnachschub. Jetzt bekommt die ukrainische Armee auch Patriot-Raketen aus den USA, um das Land besser vor den russischen Angriffen mit Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen zu schützen, dafür müssen mehrere Hundert Soldaten geschult werden.
Selenskyj will den Sieg im kommenden Jahr, das sagt er mehrmals während seines Besuchs. Über das wie der Rückeroberung aller Gebiete, und mit welcher Hilfe, hat er mit Biden gesprochen. Details verrät er nicht, aber so viel: “In den letzten 30 Tagen sind wir echte Verbündete und Partner geworden.” Nach 10 Monaten der breit angelegten russischen Invasion der Ukraine hat sich der Konflikt in den vergangenen Wochen also langsam in eine neue Phase bewegt.
Auch Putin denkt offenbar nicht ernsthaft daran, sich zurückzuziehen. Während Selenskyj nach Washington reist, verspricht der russische Staatschef seinem Militär den Sieg in der Ukraine. Die Armee werde modernisiert, dafür gebe es “keine finanziellen Beschränkungen”. 350.000 Soldaten weitere sollen unter Waffen gestellt und das Wehrpflichtalter auf 30 Jahre angehoben werden.
Erst Churchill, jetzt Selenskyj
Ukraines Oberkommandeur Walerij Saluschnyj rechnet fest mit einer neuen russischen Großoffensive innerhalb der kommenden drei Monate, mit 200.000 frischen Soldaten und einem Angriff auf die Hauptstadt Kiew. Also braucht die Ukraine noch mehr als ohnehin schon die Unterstützung der USA. “Nächstes Jahr wird der Wendepunkt”, sagt Selenskyj vor dem Kongress, es gehe deshalb um Menschen, die zu ihren Werten stünden: “Ihre Unterstützung ist ausschlaggebend.” Er packt die Kongressmitglieder an der Ehre – sie stehen auf und applaudieren.
Bei seinem ersten Auslandsbesuch seit Beginn der Invasion im Februar hält Selenskyj eine starke, sogar sehr starke Rede: Klar, eindrücklich, auf seine Zuhörer zugeschnitten. 30 Minuten hat er am Ende gesprochen, wurde immer wieder von stehenden Ovationen unterbrochen. Sein Auftritt war historisch. Der letzte ausländische Staatschef im Krieg, der vor dem US-Kongress persönlich um Hilfe bat, war der britische Premierminister Winston Churchill im Jahr 1941. Damals der Tyrann aus Berlin, jetzt der aus Moskau. Und wer weiß, was geschieht, wenn dieser seinen Sieg auch im nächsten Sommer nicht bekommt.