In Berlin wirft der ukrainische Botschafter Makeiev Russland vor, Tausende Kinder aus der Ukraine deportiert zu haben, um sie in Russland umzuerziehen. Ziel sei die “Vernichtung eines Volkes”, sagt eine Ukraine-Expertin.
Russland hat nach ukrainischen Angaben fast 20.000 Kinder aus der Ukraine entführt. Bei einer Diskussionsrunde im Deutschen Bundestag sagte der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev, Stand heute habe Russland 19.546 Kinder aus der Ukraine nach Russland deportiert.
Makeiev äußerte sich bei einer Veranstaltung der FDP-nahen Naumann- und der CDU-nahen Adenauer-Stiftung. Er berief sich auf eine Zählung der ukrainischen Regierung, die jeden Morgen aktualisiert wird, wie Daria Herasymtschuk, die Beauftragte des ukrainischen Präsidenten für Kinderrechte und Kinderrehabilitation, auf derselben Veranstaltung sagte. Sie erläuterte, diese Zahl sei vorläufig.
Der FDP-Bundestagsabgeordnete Marcus Faber wies darauf hin, dass Russland selbst sage, es habe 700.000 Kinder aus der Ukraine “gerettet”. Faber berichtete von Begegnungen im Kinderkrankenhaus von Cherson, wo Krankenschwestern ihm erzählten, sie hätten Behandlungen von Kindern simuliert, damit diese Kinder nicht entführt werden.
19.546 Namen
Makeiev sagte, die ukrainische Regierung habe keine Bestätigung für die russische Zahl. Der Botschafter betonte: “Uns geht es um jedes Kind.” Dennoch schloss er nicht aus, dass die Dunkelziffer höher ist. Für die von ihm genannten 19.546 Kinder habe die Ukraine Namen und Informationen.
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag hat im März einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und die russische Kinderrechtsbeauftragte Maria Lwowa-Belowa erlassen. Beide seien mutmaßlich für die illegale Deportation von Kindern nach Russland verantwortlich, so das Gericht.
Die frühere Grünen-Politikerin Marieluise Beck, heute Vorstandsmitglied des Zentrums Liberale Moderne, sagte, Russland wolle mit den hohen Zahlen angeblich “geretteter” Kinder suggerieren, dass die Ukrainer im “Mutterland Russland” Schutz fänden. Beck kam gerade von einer Reise aus der Ukraine zurück. Sie sagte, in den besetzten Gebieten der Ukraine gebe es “gezielte, willkürliche Trennungen von Familien und Kindern”. Danach finde in Russland eine “Russifizierung dieser Kinder” statt. Anders als von der russischen Propaganda dargestellt, würden diese Kinder in der Regel nicht in Familien gegeben, sondern in Waisenhäuser.
“Auch kulturelle Vernichtung ist eine Vernichtung”
Die ukrainische Kinderrechtsbeauftragte Herasymtschuk berichtete, es gebe sechs Arten, auf denen Kinder aus der Ukraine nach Russland verschleppt würden: Kinder würden nach Russland gebracht, nachdem ihre Eltern getötet worden seien; Kinder würden einfach entführt; Kinder würden in “Erholungscamps” gebracht, teils mit Zustimmung der Eltern, teils ohne; Familien mit Kindern würden gezwungen, nach Russland zu gehen, weil humanitäre Fluchtkorridore nicht offengehalten würden – so geschehen etwa in Mariupol; und schließlich gebe es Entführungen aus Einrichtungen für Kinder wie etwa Kinderkrankenhäuser.
Den ukrainischen Zahlen zufolge wurden bislang 386 entführte Kinder in die Ukraine zurückgebracht. Beck sagte, an dieser Arbeit seien auch “klitzekleine” russische Bürgerrechtsgruppen beteiligt, die “undercover” auf der Suche nach entführten Kindern seien. Den Tatbestand der Entführung von Kindern nannte sie “eine genozidalen Kriegführung, mit dem Ziel einer Vernichtung eines Volkes”. Anders als bei klassischen Genoziden wie etwa dem Holocaust gehe es hier nicht um die Ermordung von Menschen, sondern um eine kulturelle Vernichtung, “aber auch eine kulturelle Vernichtung ist eine Vernichtung”.
Die Ukraine braucht Waffen, keine Resolutionen
Als die vom “Bild”-Journalisten Paul Ronzheimer moderierte Runde zu der Frage kam, was Deutschland tun könne, um die Deportationen zu stoppen, wurde deutlich, wie eng dieses Thema mit dem Streit um Waffenlieferungen verbunden ist. Mit Blick auf den Vorschlag, eine Resolution im Bundestag zu verabschieden, sagte Marieluise Beck, dies sei sinnlos, “solange wir nicht sagen, dass die Ukraine den Krieg gewinnen soll – und das wird von der Bundesregierung nicht gesagt”. Solange Deutschland nicht bereit sei, die Ukraine stärker zu unterstützen, “müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen, dass diese ungebremste Gewalt immer weitergeht”.
Die Position wurde von dem CDU-Verteidigungsexperten Roderich Kiesewetter unterstützt. In Anspielung auf den von Bundeskanzler Olaf Scholz vorgeschlagenen Deutschland-Pakt sagte Kiesewetter, es müsste einen Pakt geben, “dass dieser Krieg so schnell wie möglich in den Grenzen von 1991 für die Ukraine abgeschlossen wird”. Er kritisierte die immer wieder geäußerte Sorge, Deutschland dürfe nicht Kriegspartei werden: “Wir sind Kriegsziel, und wenn wir nicht Kriegspartei werden wollen, müssen wir alles dafür tun, dass die regelbasierte Ordnung wiederhergestellt wird.”