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“Russen und Ukrainer versuchen wie Hamas, Tunnel zu nutzen”

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Russlands Streitkräfte wagen bei Awdijiwka eine Herbstoffensive und erleiden dabei gleich zu Beginn massive Verluste. Oberst Markus Reisner sieht darin den Beweis, dass klassische Militärmanöver auf dem “gläsernen Gefechtsfeld” nicht mehr funktionieren. Stattdessen versuchen beide Seiten Tunnel zu nutzen, um voranzukommen, sagt er im wöchentlichen Interview mit ntv.de. Der Militärexperte erklärt zudem, warum die Lieferungen der ATACMS-Raketen genau zur richtigen Zeit gekommen sind.

ntv.de: An der Front kommt es gerade zu heftigen Zusammenstößen mit großen Verlusten. In Awdijiwka soll Russland binnen 24 Stunden 900 Soldaten und 150 gepanzerte Fahrzeuge verloren haben. Wie ist es dazu gekommen?

Markus Reisner ist Oberst des österreichischen Bundesheeres und anaylsiert jeden Montag für ntv.de die Kriegslage in der Ukraine.

(Foto: privat)

Markus Reisner: In den letzten Tagen konnte man gut beobachten, dass der Beginn der offensichtlich geplanten russischen Herbstoffensive in einem ersten Ansatz gescheitert ist. Die Russen haben innerhalb von zehn Tagen massive Verluste erlitten. Sie haben versucht, in einer Zangenbewegung die Stadt Awdijiwka einzuschließen und dabei bis zu 150, manche Beobachter sprechen sogar von bis zu 200, Panzer und Kampfschützenpanzer verloren. Gelungen ist das den Ukrainern durch den Einsatz ihrer Minenfelder, Artillerie, aber auch durch den Einsatz von ukrainischen Panzerabwehrtrupps und First Person View Angiffsdrohnen.

Entwickelt sich Awdijiwka gerade zum zweiten Bachmut?

Beide Seiten stecken in dem Dilemma, dass das klassische Manövrieren großer mechanisierter Verbände in den vergangenen Monaten fast unmöglich geworden ist. Das Problem besteht darin, dass es zu jedem Zeitpunkt hunderte, sogar tausende Drohnen auf sehr engem Raum am Himmel gibt, die jede Bewegung des anderen genau verfolgen und beobachten können. Wenn einer von beiden dann versucht, in die Offensive zu gehen, gerät er sofort unter Artilleriebeschuss oder wird von Kamikaze-Drohnen angegriffen, sodass der Angriff unter hohen Verlusten wieder zum Erliegen kommt. Das haben wir bei den Ukrainern gesehen und sehen es jetzt wieder beim Versuch der Russen, selbst in die Offensive zu gehen. Das sogenannte “gläserne Gefechtsfeld” ermöglicht beiden Seiten, schnell und rasch darauf zu reagieren. Beide Seiten versuchen deshalb, ihre Taktik und Gefechtstechnik zu ändern.

Wie sieht diese neue Taktik aus?

Einerseits versuchen sie, in sehr kleinen Gruppen entlang von Baumzeilen anzugreifen und sich Meter für Meter vorzuarbeiten. Andererseits versuchen sie sogar, unterirdisch durch Tunnel voranzukommen und von dort anzugreifen. Diese Taktik hat man bereits im Ersten Weltkrieg genutzt.

Wie die Hamas-Terroristen es im Gazastreifen machen?

Genau, die Hamas hat dieses Tunnelsystem gebaut, um sich unter dem Zaun des Gazastreifens zu bewegen und die Israelis anzugreifen. In der Ukraine versuchen sie nun auch Tunnel zu nutzen.

Seit wann benutzen die Ukrainer und Russen ebenfalls Tunnelsysteme, um sich fortzubewegen? Das kam in der Vergangenheit kaum zur Sprache.

Das fing in den knapp acht Jahren von 2014 bis 2022 an. Nach den Angriffen der russischen Seite in den Separatistengebieten kam es zu einer Art Waffenstillstand. An dieser Demarkationslinie haben beide Seiten sich mit Artillerie beschossen, sich aber auch zum Teil unterirdisch bekämpft. Im Osten der Ukraine gibt es zudem sehr viel Kohle- und Braunkohleabbau. Dort gibt es unterschiedliche Anlagen noch aus der Zeit des Bergbaus und der Braunkohleförderung. Die Russen haben hier nicht nur Verteidigungsanlagen errichtet, sondern offensichtlich auch ukrainische Stellungen unterminiert, um sie dann überraschend anzugreifen. Auch zu erwarten ist, dass sie wie im Ersten Weltkrieg entsprechende Minen legen, diese zu sprengen und dann einen Durchbruch schaffen.

Das heißt, sie haben keine neuen Tunnel gebaut, sondern nutzen die vorhandenen aus den Bergbauanlagen?

Genau, sie verwenden Tunnel, die es schon gibt. Man darf sich nicht vorstellen, dass dort bereits umfangreich groß gegraben wurde, wie man das noch aus der Zeit des Ersten Weltkrieges kennt. Stattdessen nutzen sie die bestehenden unterirdischen Anlagen, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Man konnte jetzt zum ersten Mal sehen, wie beide Seiten unmittelbar an der Front den Gegner unterminieren wollten. Es gibt aber Indizien, dass zum Beispiel auch beim Kampf um Mariupol in den Industriegebieten ähnliche unterirdischen Kelleranlagen für den überraschenden Angriff genutzt wurden.

Welche Seite hat bei den unterirdischen Anlagen einen Vorteil?

Man kann noch nicht von einem groß angelegten Trend sprechen. Es fehlen auch noch umfangreiche Bilder, um eine Einschätzung abgeben zu können. Was man aber gesehen hat, ist, dass offensichtlich auch die Russen unterirdische Angriffe starten, weil sie eben so katastrophal bei ihren Angriffen auf der Oberfläche an den ukrainischen Abwehrstellungen hängen geblieben sind.

Es gibt also noch keine “Tunnel-Metro”, wie das im Gazastreifen bei den Hamas der Fall ist?

Nein, die Hamas, aber auch die Hisbollah im Südlibanon haben über Jahre umfangreiche Tunnelanlagen gebaut, um einerseits unterirdisch auf israelisches Territorium zu kommen, und andererseits Munition und Waffen zu lagern und unerkannt zu bleiben.

Werfen wir einen Blick auf weiter südlich der Frontlinie, am Dnipro. Dort gab es zuletzt widersprüchliche Aussagen: Das ISW behauptet, dass den Ukrainern eine Art Durchbruch gelungen sei. Die Russen behaupten dagegen, sie haben sehr erfolgreiche Gegenangriffe gestartet. Was stimmt?

Das muss man immer im Zusammenhang mit anderen Frontabschnitten sehen: Russland hat in Awdijiwka versucht, selbst in die Offensive zu gehen und ist in der ersten Phase gescheitert. Sie sind deshalb gezwungen, operative Reserven, also Reserven, die vor Ort sind, einzusetzen. Genau das möchte die Ukraine verhindern, indem sie an anderer Stelle mit entsprechend hoher Entfernung versucht, die Russen zu verlocken, diese Reserven umzuleiten. Das sehen wir jetzt am Dnipro, wo die Ukraine an mehreren Stellen den Fluss überquert hat. Es gibt sogar Berichte, dass es den Ukrainern gelungen ist, eine Pontonbrücke zu schlagen.

Wie sieht es momentan am Rest der Front aus? Wie schätzen Sie die Lage grundsätzlich für die Ukraine jetzt zu Anfang der Rasputiza ein?

Hier muss man wieder drei Ebenen unterscheiden, die taktische, operative und strategische. Auf der taktischen Ebene erkennen wir die Angriffe der Russen bei Awdijiwka und im Zentralraum, sowie von der Ukraine den Versuch, den Dnipro zu überschreiten. Auch an anderen bekannten Stellen der ukrainischen Offensive, wie zum Beispiel nördlich von Mariupol, gibt es laufende Angriffe. Aber es gelang bis jetzt keiner Seite ein intendierter Durchbruch, trotz heftigster Angriffe in den letzten Monaten. Man erkennt, dass die Russen und die Ukrainer beide dasselbe versuchen.

Und zwar?

Beide versuchen den anderen zu zwingen, Reserven einzusetzen und das ist typisch für einen derartigen Abnutzungskrieg. Interessant ist, dass die Ukraine angekündigt hat, fünf neue Brigaden für die geplante Frühjahrsoffensive aufzustellen. Das sind die 150. bis 154. mechanisierte Brigade. Diese haben einen Bedarf von circa 150 Kampfpanzern, 300 Schützenpanzern und 200 Artilleriesystemen. Diese Brigaden sollen der Ukraine die Möglichkeit geben, wieder ihre Kräfte zu nähren und selbst in die Offensive zu gehen. Auf der operativen Ebene ist der Angriff auf Russlands Hubschrauberkräfte im Zentralraum mittels frisch gelieferten ATACMS aus den USA interessant. Damit ist es den Ukrainern gelungen, eine wesentliche Fähigkeit der Russen zu schwächen. Diese Kampfhubschrauber waren dafür verantwortlich, dass die ukrainische Offensive in der ersten Phase gescheitert ist, weil die Russen aus sicherer Entfernung die ukrainischen Kolonnen mit Hubschraubern beschießen konnten. Dieser Schlag mit den ATACMS, der möglicherweise auch noch genährt wird, wird einen entsprechenden Effekt ausüben.

Und auf der strategischen Ebene?

Da ist interessant, dass wir auf beiden Seiten ein Nachlassen von dem Einsatz von Marschflugkörpern und Drohnen erkennen. Vielleicht, um sie für Angriffe auf die kritische Infrastruktur zu sparen. Vielleicht hält man die Kräfte auch zurück, falls es an der Front zu dynamischen Entwicklungen kommt. Auf der ukrainischen Seite sind die Angriffe mit Storm Shadow und Scalp fast vollständig zum Erliegen gekommen. Das kann mehrere Gründe haben. Die Russen behaupten, in den letzten Tagen mehrere Kampflugzeuge, als Träger dieser Luft-Boden-Waffen abgeschossen zu haben. Zudem behaupten sie viele der Raketen fast vollständig abschießen zu können. In jedem Fall zeigt es aber, dass die ATACMS zur richtigen Zeit gekommen sind, weil sie eben diese Lücke schließen können, die möglicherweise dadurch entstanden ist.

Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks

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