Seit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine hat Russland Tausende Kinder und Jugendliche aus dem Land gebracht. Das wird oft humanitär begründet. Doch inzwischen sind sich Hilfsorganisationen und Forschungsteams sicher, dass es sich um systematische Verschleppungen handelt, die vermutlich sogar Kriegsverbrechen darstellen.
Als der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba in dieser Woche vor der UN-Vollversammlung spricht, bringt er ein Thema zur Sprache, das ein besonders perfider Teil des russischen Krieges gegen sein Land ist: die systematische Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland und ihre gezielte Entfremdung vom Herkunftsland.
Kulebas Angaben zufolge hat Russland bereits Tausende Kinder deportiert, um sie von russischen Familien adoptieren und zu Russen umerziehen zu lassen. “Das ist ein Völkermord, und dem stehen wir heute gegenüber”, so der Minister.
Seit Beginn des Krieges vor einem Jahr gibt es immer wieder Berichte darüber, dass ukrainische Kinder und Jugendliche in russisch besetzten Gebieten “verschwinden”. Im September 2022 bestätigte Moskau, dass es 1800 Waisenkinder aus der Ukraine nach Russland gebracht habe. Das Humanitarian Research Lab der US-Universität Yale ging zuletzt von etwa 6000 nach Russland verschleppten ukrainischen Kindern aus, die ukrainische Regierung nennt eine Zahl von mindestens 14.000. Entsprechende Berichte von Verschleppungen gab es unter anderem aus besetzten Gebieten in Cherson oder aus Mariupol. Überprüfen lassen sich die Zahlen nur schwer.
Moskau hat mehrfach dementiert, dass es sich um gezielte Verschleppungen handelt und stellt die Verbringung der Kinder als “Rettungsakt” dar, mit dem sie aus den Kampfzonen herausgebracht werden. Minderjährige werden oft mit der Begründung nach Russland gebracht, dass sie dort medizinisch behandelt werden können oder sich erholen können. Beides wäre ohne die russischen Angriffe in der Ukraine möglich.
Kinderrechte nach Putins Ideologie
Die in den USA ansässige Denkfabrik Institute for the Study of War beschäftigte sich im November 2022 mit den Verschleppungen von Minderjährigen und stellte fest, dass in Russland offen für die Zwangsadoptionen ukrainischer Kinder durch russische Familie geworben wird. In einer mehrteiligen Dokumentarserie russischer Militärblogger über mehrere Kinder aus dem Donbass heißt es demnach, dass russische Beamte allein im Jahr 2022 über 150.000 Kinder aus dem Donbass “evakuiert” haben.
Eine entscheidende Rolle bei den Deportationen spielt demnach die Kinderrechtskommissarin der Russischen Föderation, Maria Lvova-Belova. Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow, der auch mit Kampfeinheiten in der Ukraine operiert, erklärte, er habe mit Lvova-Belova zusammengearbeitet, um “schwierige Teenager” aus verschiedenen russischen Regionen und den besetzten Gebieten Donezk und Luhansk nach Tschetschenien zu bringen. Diesen Minderjährigen, die oft zu Waisen erklärt werden, obwohl sie Angehörige haben, habe er dann “militärisch-patriotische Erziehung” angedeihen lassen.
Hinter diesen Formulierungen verbirgt sich vermutlich die militärische Ausbildung von Heranwachsenden. Nichtregierungsorganisationen berichten, dass Jugendliche, die nach der Annexion der Krim 2014 nach Tschetschenien verschleppt wurden, inzwischen auf prorussischer Seite gegen die Ukraine kämpfen.
Das Humanitarian Research Lab der US-Universität Yale sieht ein “systematisches Programm zur Umerziehung und Adoption ukrainischer Kinder” durch Russland. Dafür gibt es den Forschenden zufolge ein Netzwerk von mindestens 40 Sorgerechtszentren, das sich über ganz Russland erstreckt. Das Forschungsteam hatte Social-Media-Beiträge, Nachrichtenberichte, Regierungsankündigungen und russische Nachrichtendienste durchsucht und dabei nach Mustern und Verbindungen Ausschau gehalten, die sonst unbemerkt bleiben könnten. Dem Geschäftsführer des Yale Humanitarian Research Lab, Nathaniel Raymond, zufolge zeigen die Recherchen, dass hinter den Verschleppungen ein klares Konzept, logistische Planung und eine eindeutige Befehlskette steht. “In manchen Fällen gibt es Adoptionen, in anderen Fällen Sommercamp-Programme, bei denen die Kinder nach Hause zurückkehren sollten und es nie getan haben und in manchen Fällen handelt es sich um Umerziehungslager”, so Raymond.
Die UN-Kinderhilfsorganisation Unicef beobachtet schon länger, dass Waisenhäuser für die russische Seite von besonderem Interesse sind. Im Juni 2022 zeigte sich Unicef besorgt über Pläne russischer Behörden, “die Verbringung von Kindern aus der Ukraine zu Familien in der Russischen Föderation zuzulassen, die offenbar keine Schritte zur Familienzusammenführung beinhalten oder das Wohl des Kindes respektieren”. Lvova-Belova sprach ganz offen darüber, dass sie selbst einen Jungen aus Mariupol adoptiert hat.
Die frühere Gitarrenlehrerin steht unter anderem wegen ihrer Verwicklung in die Verschleppungen auf der Sanktionsliste der EU und der USA. In der Begründung des US-Finanzministeriums, aus der CNN zitiert, heißt es: “Zu Lvova-Belovas Bemühungen gehören insbesondere die Zwangsadoption ukrainischer Kinder in russische Familien, die sogenannte ‘patriotische Erziehung’ ukrainischer Kinder, Gesetzesänderungen, um die Verleihung der Staatsbürgerschaft der Russischen Föderation an ukrainische Kinder zu beschleunigen, und die absichtliche Verschleppung ukrainischer Kinder durch die russischen Streitkräfte.”
Geld für die Russifizierung
Medienberichten zufolge bekommen Russen, die ukrainische Kinder adoptieren, finanzielle Anreize. Die Rede ist von einer einmaligen Zahlung von “Mutterschaftskapital und Staatshilfe” in Höhe von 20.000 Rubel, umgerechnet etwa 300 US-Dollar. Für ältere Kinder oder Kinder mit Beeinträchtigungen und Geschwisterkinder gebe es auch höhere Zahlungen. Mit der Adoption erhalte der Adoptierende auch das Recht, den Namen des Kindes zu ändern. Das mache eine spätere Identifizierung noch schwerer. Im russischen Fernsehen gab es zudem Berichte, wie nach einem vereinfachten Verfahren die Adoptionsunterlagen vernichtet werden. Auch hier sei das Ziel, dass die Kinder alles Ukrainische vergessen und stattdessen eine pro-russische patriotische Erziehung erhalten.
In Propaganda-Aufnahmen ist Lvova-Belova zu sehen, wie sie an der Verleihung der russischen Staatsbürgerschaft an ukrainische Kinder teilnimmt. Sie äußert sich darin unter anderem begeistert über diese “fantastische Entwicklung”, dass die Kinder alles Ukrainische vergessen und sich zunehmend als Russen identifizieren. Gerade erst zeigte das ZDF, dass auch die internationale Hilfsorganisation SOS-Kinderdörfer in die Verschleppung verstrickt ist. Bilder belegen, dass ukrainische Kinder in das SOS-Kinderdorf Tomilino in der Nähe von Moskau gebracht wurden. Die Organisation bestätigte auf Anfrage, dass 13 Kinder aus der Ukraine in Tomilino betreut werden. SOS Kinderdorf Russland könne “keine Auskunft darüber geben, wie die Kinder nach Russland kamen und die russische Staatsbürgerschaft erlangten”.
Die Ukraine sieht in den Adoptionen nicht nur einen Verstoß gegen nationale Gesetze, sondern auch gegen die Genfer Konvention. Diese verbietet es Besatzungsmächten, den Familienstand von Kindern zu ändern. Kiew betont seit Monaten, man werde weiterhin alle Anstrengungen unternehmen, um zu erreichen, dass ukrainische Kinder, die illegal in Russland aufgenommen und adoptiert wurden, zu ihren Eltern oder Erziehungsberechtigten zurückkehren können.