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“Grausamkeit ist Teil der russischen Kultur”

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Vergangene Woche nahm Oleksandra Matwijtschuk im EU-Parlament stellvertretend für das ukrainische Volk den Sacharow-Preis entgegen. Am Wochenende davor erhielt die 39-jährige Ukrainerin auch den Friedensnobelpreis, mit dem das von ihr geleitete “Zentrum für bürgerliche Freiheiten” (CCL) geehrt wurde. Vor wenigen Tagen kam Matwijtschuk zur Premiere der Doku “Oh, Sister”, in der sie mitspielt, nach Berlin. Der bewegende Kurzfilm, der nun auch online verfügbar ist, schildert die Rolle der Frau im Krieg. Über ihre eigene Rolle – und die ihrer Organisation – spricht Matwijtschuk im Interview mit ntv.de. Sie überlegt außerdem, wie sie das Preisgeld verwenden könnte. Und es geht auch um Folter als Teil von Putins Kriegsführung – und der russischen Kultur.

ntv.de: Frau Matwijtschuk, das von Ihnen gegründete “Zentrum für bürgerliche Freiheiten” wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Welche Bedeutung hat eine solch hohe Auszeichnung für Ihre Organisation?

Oleksandra Matwijtschuk: Es ist eine große Verantwortung. Wir hatten bisher nicht den Luxus, gehört zu werden. Weder wir, noch unsere Kollegen in Russland. Seit Jahrzehnten machen Menschenrechtler darauf aufmerksam, dass in Russland Journalisten getötet, Aktivisten inhaftiert und Menschen wegen friedlicher Demonstrationen verfolgt werden. Und wie haben die entwickelten Demokratien darauf reagiert? Sie schüttelten Putin weiterhin die Hand, Deutschland baute Nord Stream 2, man machte business as usual. Niemand hat uns zugehört.

Anlässlich der Premiere des Films “Oh, Sister” besuchte Oleksandra Matwijtschuk vergangene Woche Berlin.

(Foto: Dominik Tryba / Introduce.berlin)

Wir haben lange versucht zu erklären, dass ein Staat, der die Menschenrechte in seinem eigenen Land verletzt, nicht nur für seine Bürger eine Bedrohung darstellt. 2014 drückte die Welt ein Auge zu, als Russland die Krim annektierte. Putin sah sich das an und erkannte: Der Westen hat alles geschluckt, ich kann weitermachen. Für die heutige Situation ist nicht nur Putin verantwortlich, nicht nur das russische Volk, das imperiale Ambitionen hat und seine Regierung zum Angriffskrieg ermutigt hat. Die Verantwortung liegt in erster Linie bei der internationalen Gemeinschaft, die jahrzehntelang die Augen verschlossen hat.

Neben dem CCL ging der Nobelpreis in diesem Jahr auch an das russische “Memorial” und an den belarussischen Bürgerrechtler Ales Bjaljazki. In der Ukraine gab es gemischte Reaktionen auf die Entscheidung des Nobelkomitees, Vertreter der Länder, die sich im Krieg befinden, gemeinsam auszuzeichnen. Halten Sie diese Kritik für gerechtfertigt?

Ich teile die Kritik nicht, kann sie aber nachvollziehen. Denn in den Medien war zu lesen, dass Russland, die Ukraine und Belarus gemeinsam den Friedensnobelpreis erhalten haben. Viele erinnerte es an den sowjetischen Mythos der brüderlichen Nationen, den Putin nun wieder aufleben zu lassen versucht. Das ist ärgerlich. Deshalb haben wir den Ukrainern immer wieder erklärt, dass dies kein Preis für Länder ist, sondern ein Preis für Menschen, die gemeinsam gegen das Böse kämpfen, das versucht, sich in unserer Region durchzusetzen.

Der Nobelpreis ist mit umgerechnet mehr als 900.000 Euro dotiert. Wird das Geld aufgeteilt? Wissen Sie schon, wie Sie es ausgeben?

Der Preis wird zwischen drei Organisationen aufgeteilt. Da die Gespräche über den Zeitpunkt der Überweisung noch nicht begonnen haben, bleibt noch Zeit zu entscheiden, wie dieses Geld am besten verwendet werden soll. Entweder für die Bedürfnisse der Bevölkerung, den Wiederaufbau des Landes oder für die Aufarbeitung der russischen Kriegsverbrechen.

Das “Zentrum für bürgerliche Freiheiten” dokumentiert russische Kriegsverbrechen. Seit Beginn des Krieges haben Sie 27.000 Fälle registriert. Was sind das für Verbrechen?

Das sind Angriffe auf Fluchtkorridore, gezielter Beschuss und Zerstörung von Kirchen, Schulen, Krankenhäusern und ganzen Stadtvierteln. Das sind Filtrationslager, in denen Menschen illegal festgehalten, gefoltert und getötet werden. Es ist die Deportation großer Teile der Bevölkerung auf russisches Gebiet, Zwangsadoption ukrainischer Kinder. Wir registrieren, wie Russland die ukrainische Identität in den besetzten Gebieten zerstört. Für uns ist offensichtlich, dass dieser Krieg völkermörderischen Charakter hat.

Können Sie das näher erläutern?

Menschenrechtler aus Syrien warnten uns davor, medizinische Hilfe mit speziellen Kennzeichen zu versehen, da die Russen genau darauf zielen. Das Gleiche gilt für das Wort “Kinder”: Das Theater in Mariupol, vor dem in großen Buchstaben “Kinder” stand, wurde dem Erdboden gleichgemacht, obwohl – oder weil – sich mehrere Hundert Menschen darin befanden. Zivilisten werden als menschliche Schutzschilder in Kellern von Gebäuden festgehalten, in denen die Besatzer stationiert sind. In allen befreiten Städten und Dörfern entdecken wir Folterkeller. Dort werden Menschen in Stücke geschnitten, ihre Gliedmaßen werden abgetrennt, Nägel abgerissen, sie werden mit Elektroschocks gefoltert. Dies ist eine für das 21. Jahrhundert unvorstellbare Grausamkeit, die zu einem Teil der russischen Kultur geworden ist. Man spricht so gerne über die russische Kultur – ich sehe sie so.

Woher kommt Ihrer Meinung nach diese Grausamkeit?

Von der Straflosigkeit. Die Russen glauben wirklich, sie können tun, was sie wollen. Sie sind nie dafür bestraft worden. Sie glauben, dass das Gesetz nichts für sie ist. Eine russische Kollegin hat mir einmal gesagt: “Was überrascht dich denn? Wir hatten Professoren für Völkerrecht an der Moskauer Staatsuniversität, die sagten, das Völkerrecht sei etwas für Schwächlinge. Wir sind eine starke Nation”. Diese Straffreiheit ist nicht nur eine Bedrohung für die Ukraine und andere Nachbarländer, sondern für die ganze Welt.

In Westeuropa lehnt ein Teil der Bevölkerung die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ab und beharrt stattdessen auf einer diplomatischen Lösung.

Wissen Sie, wir sitzen jetzt hier in Berlin, trinken Tee, das Licht ist an, aus dem Fenster sieht man einen schönen Weihnachtsmarkt. In einer solchen Atmosphäre ist es sehr einfach, über Friedensverhandlungen zu reden. Aber Frieden ist nicht, wenn ein Land, das angegriffen wird, aufhört, sich zu verteidigen. Dann ist es kein Frieden, sondern Besatzung. Und ich weiß, was das bedeutet. Ich dokumentiere seit acht Jahren Verbrechen, die während der Besatzung begangen wurden. Ich habe mit Frauen gesprochen, die geschlagen und vergewaltigt wurden, als sie schwanger waren. Leute, die uns vorwerfen, keinen Frieden schließen zu wollen, weil wir mit der Besatzung nicht einverstanden sind, sollten in die Realität zurückkehren. Die Menschen in der Ukraine wollen Frieden wie niemand sonst. Aber der Frieden kommt nicht, wenn man einfach aufhört, zu kämpfen.

In Deutschland hört man von den Gegnern der Militärhilfe für die Ukraine immer öfter den Slogan “Das ist nicht unser Krieg”. Was halten Sie davon?

Diese Leute sollten Putins Reden lesen, dann werden sie verstehen, gegen wen er den Krieg führt. Die Ukraine wird dort selten erwähnt. Es ist kein Krieg zwischen zwei Ländern, es ist ein Krieg zwischen zwei Systemen: Autoritarismus und Demokratie. Als sich die Ukraine 2014 für die Demokratie entschied, begann Putin diesen Krieg – um uns zu stoppen. In der Tat herrscht auch in Europa seit langem Krieg: Informationskrieg, diplomatischer Krieg, Energiekrieg, Wirtschaftskrieg. Das Wichtigste ist, rechtzeitig die richtigen Schritte zu unternehmen, damit die militärische Komponente nicht noch dazukommt. Denn wenn Putin in der Ukraine nicht gestoppt wird, wird er noch weiter gehen. Es ist sehr naiv, von ihm zu erwarten, dass er aufhört. Die Geschichte zeigt, dass autoritäre Führer einen sehr großen Appetit haben. Und sie hören erst auf, wenn sie aufgehalten werden.

Aber einige Menschen scheinen genau das zu wollen – einen starken Anführer, ein autoritäres Regime.

Es erstaunt mich immer wieder, dass Menschen, die von Autoritarismus und “starken Anführern” schwärmen, in entwickelten Demokratien leben. Sie sollten mal nach Russland ziehen. Es ist sehr einfach, Putin zu unterstützen, während man in Deutschland ist und alle Vorteile der westlichen Zivilisation genießt. Aber wenn Sie ihn unterstützen, ziehen Sie doch zurück in das Land – oder eher das System -, das Sie unterstützen. Mal sehen, wie lange Sie es dort aushalten.

In Ihrer Nobelpreisrede riefen Sie zur Solidarität auf und sagten: “Man muss kein Ukrainer sein, um der Ukraine zu helfen. Es reicht aus, einfach nur ein Mensch zu sein”. Was kann ein einfacher Mensch in Westeuropa tun, um zu helfen?

Man kann den Krieg einen Krieg nennen. Man kann über die Ukraine schreiben. Man kann Spenden sammeln, Flüchtlingen helfen. Für uns ist sehr wichtig zu wissen, dass, während wir keinen Strom und keine Heizung haben – wie in meiner Kiewer Wohnung zum Beispiel – Millionen von unseren Müttern mit Kindern in Europa in Sicherheit sind. Das gibt Kraft zum Kämpfen.

Und was können Menschen in Russland tun?

Leider ist es nicht Putins Krieg, sondern der des russischen Volkes. Denn die meisten Russen unterstützen ihn. Es ist eine imperiale Kultur, eine Kultur, die auf der Idee der so genannten russischen Größe beruht. Die meisten Russen sehen ihre Größe in der gewaltsamen Wiederherstellung des russischen – oder sowjetischen – Reichs. Aus diesem Grund kann Putin nicht durch Verhandlungen gestoppt werden – er repräsentiert den Wunsch des russischen Volkes, das seine imperiale Vergangenheit nicht neu definiert hat. Aber es gibt einige marginale Stimmen – leider sind sie marginal – und sie sind sehr wichtig. Zum Beispiel die Stimmen der russischen Menschenrechtler, die den Krieg seit acht Jahren als Krieg bezeichnen. Sie haben im Grunde keine anderen Mittel mehr als ihr eigenes Wort und ihre eigene Position. Die Menschen in entwickelten Demokratien haben viel mehr Möglichkeiten, die Situation zu beeinflussen.

Welche Hilfen können die westlichen Regierungen leisten?

In erster Linie sind es Waffen, die sind bitter nötig. In Deutschland zum Beispiel gibt es immer noch ein Ausreden-Ping-Pong, warum es keine “Leopard”-Kampfpanzer liefern kann. Die Zeit vergeht, Menschen sterben – und die Diskussionen gehen weiter. Diese Diskussionen sind sehr schmerzhaft vor dem Hintergrund der vielen Menschen, die jeden Tag ohne diese Panzer sterben. Auch Sanktionen sind sehr wichtig. Sie werden sich langfristig auswirken, aber wir sprechen jetzt über die unmittelbare Zukunft, in der wir überleben müssen. Es gab immer noch keine Sanktionen, die einen schnellen, kaskadenartigen Effekt auslösen und die russische Wirtschaft zu Fall bringen konnten.

Was braucht die Ukraine außer Waffen und Sanktionen?

Wir brauchen auch Gerechtigkeit. Denn all das Grauen, das Teil unseres Lebens geworden ist, ist das Ergebnis der völligen Straffreiheit, die Russland seit Jahrzehnten genießt. Die Russen folterten und töteten Menschen in Georgien, in Mali, in Libyen und Syrien. Es gab vor ein paar Jahren ein Video, in dem die Russen filmen, wie sie einem Syrer die Hände mit einer Schaufel abhacken und den Kopf abschlagen. Dann wird der Mann verbrannt. Und die Russen verstecken im Video nicht mal ihre Gesichter. Unsere Kollegen, russische Menschenrechtler, strebten einen Strafprozess an, aber dieses Verbrechen wurde nicht einmal registriert. Das ist ein Teil der russischen Kultur geworden. Nicht Puschkin, nicht Dostojewski, sondern diese demonstrative Exekution ist für mich das Sinnbild der russischen Kultur. Das ist die russische Kultur und alles andere ist eine Tarnung.

Wir müssen diese Straffreiheit beenden. Wir müssen die eigentlichen Täter vor Gericht stellen, ebenso wie Putin, Lukaschenko, das hohe Militärkommando und die politische Elite. Nicht nur wegen der Gerechtigkeit für die Ukrainer, sondern um sie zu stoppen. Damit sie es in Zukunft in anderen Ländern nicht gleichtun.

Wofür kämpft die Ukraine in diesem Krieg?

Wir kämpfen für die Freiheit in all ihren Erscheinungsformen. Die Freiheit, ein unabhängiges, souveränes Land zu sein. Die Freiheit, Ukrainer zu sein und unsere Sprache und Kultur leben zu können. Und für die Freiheit, unsere demokratische Wahl zu treffen. Russland begann den Krieg 2014 nicht, weil es Angst vor der NATO hatte. Sondern weil die Ukraine nach der Revolution der Würde die Möglichkeit bekam, demokratische Reformen durchzuführen. Putin hat keine Angst vor der NATO, sondern vor der Idee der Freiheit. Und das ist es, wofür wir kämpfen.

Wie sehen Sie die Zukunft der Ukraine nach dem Krieg?

Wir alle kämpfen für den Sieg. Aber der Sieg bedeutet für uns nicht nur, dass alle russischen Truppen die Ukraine verlassen. Der Sieg ist dann erreicht, wenn uns der demokratische Wandel gelingt, wenn wir demokratische Institutionen aufbauen können. Wenn wir Menschenrechte für alle haben, wenn wir eine unabhängige Justiz haben, eine Regierung, die den Bürgern gegenüber verantwortlich ist. Wir werden hart arbeiten müssen, um diesen Übergang zu schaffen. Und wir befinden uns bereits während des Krieges im Prozess der demokratischen Reformen. Wir kämpfen darum, in die europäische Familie aufgenommen zu werden. Ich will nochmal vermerken, dass Russland den Krieg genau dann begonnen hat, als bei uns das autoritäre Regime fiel und der Weg zur europäischen Integration geöffnet wurde.

Mit Oleksandra Matwijtschuk sprach Uladzimir Zhyhachou.

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