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Funktionieren Putins Atomwaffen überhaupt noch?

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Russland droht seit Beginn der Ukraine-Invasion in regelmäßigen Abständen mit dem Einsatz von Atomwaffen. Ein US-Experte und ein Ex-KGB-Spion säen jetzt Zweifel an der Zuverlässigkeit russischer Nuklearbomben. Was ist da dran?

Zweimal wurde bisher in der Menschheitsgeschichte eine Atomwaffe im Krieg gezündet. Beide Male waren es die Amerikaner: 1945 warfen sie innerhalb von drei Tagen “Little Boy” und “Fat Man” über Hiroshima und Nagasaki ab. Auf einen Schlag waren 100.000 Menschen tot, die beiden japanischen Großstädte völlig zerstört.

Fast 80 Jahre lang haben die Atommächte ihre Nuklearwaffen nicht mehr in Kriegen und Konflikten eingesetzt. Seit Beginn der Ukraine-Invasion Anfang 2022 dreht Russland aber in regelmäßigen an der atomaren Eskalationsspirale. Belarus soll Standort für Nuklearsprengköpfe werden, Russland steigt aus dem Atomwaffen-Abrüstungs-Abkommen mit den USA aus, Kreml-Propagandisten drohen mit einem Nuklearschlag auf Berlin. Nachrichten wie diese haben in den vergangenen Monaten Moskau verlassen.

Dass die Kreml-Spitze eines Tages wirklich auf den roten Atomknopf drückt, glaubt Christian Mölling von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) aber nicht. “Es geht darum, eine Diskussion in den europäischen Gesellschaften auszulösen, nach dem Motto: ‘Oh, mein Gott, Nuklearwaffen, ganz schrecklich. Jetzt kommt der Atomkrieg, oder nicht?’ Das ist das, was Putin damit vor allen Dingen bezweckt”, ist der Sicherheitsexperte im Stern-Podcast “Ukraine – die Lage” überzeugt.

“Niemand weiß es wirklich”

Atomwaffen existieren nicht, um eingesetzt zu werden. Sie sind seit den verheerenden Abwürfen auf Japan nur für die Abschreckung da. Aber was wäre, wenn es doch jemand versuchen würde? Würde der Nuklearsprengkopf tatsächlich explodieren?

Diese ganz praktische Frage hat das Wissenschaftsmagazin “Wired” gestellt. Und sind dabei auf Experten gestoßen, die Zweifel haben, ob die seit Jahrzehnten eingemotteten Sprengköpfe überhaupt noch funktionieren. “Niemand weiß es wirklich”, sagt etwa der amerikanische Atomwaffenhistoriker Alex Wellerstein.

In Zeiten des Kalten Krieges wurden mehr als 2000 Atomtests durchgeführt – die meisten von den USA und der Sowjetunion – aber kein Land hat jemals einen Atomsprengkopf getestet, der von einer ballistischen Interkontinentalrakete abgefeuert wurde.

Schätzungen zufolge besitzt Russland knapp 6000 Atomsprengköpfe – kein Land verfügt ein derart großes Arsenal, hat Moritz Kütt vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg bereits kurz nach Kriegsbeginn im ntv-Podcast “Wieder was gelernt” berichtet. “Es gibt rund 2500 strategische Waffen unter diesen 6000. Und es gibt 2000 taktische Waffen. Sie können in regionalen Konflikten eingesetzt werden. Das ist bisher aber noch nicht passiert.” Die übrigen etwa 1500 Nuklearwaffen im russischen Arsenal seien schon lange außer Betrieb genommen, führt der Experte weiter aus. “Sie liegen im Lager, weil Russland mit der Abrüstung der Waffen nicht so schnell hinterherkommt.”

Aber auch Moritz Kütt kann nicht sagen, ob die jahrzehntealten Sprengköpfe im Ernstfall tatsächlich funktionieren würden. “Atomwaffen sind komplex, empfindlich und oft ziemlich alt”, fasst das Wired-Magazin zusammen.

Zudem gibt es seit 1963 ein Kernwaffenversuchsverbot. Das heißt, die Länder dürfen ihre Waffen nicht testen, sondern müssen sich auf Simulationen verlassen. Das sind nicht die bestmöglichen Voraussetzungen.

Achillesferse Sprengköpfe?

Sollten die Russen tatsächlich ihre taktischen Atomwaffen mit Trägerraketen verbinden, können mehrere Dinge schiefgehen. Zum Beispiel könnten die Trägersysteme unzuverlässig sein, zitiert Wired einen ehemaligen leitenden Angestellten des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Zu Kriegsbeginn im vergangenen Frühjahr haben laut den Berichten von US-Beamten über die Hälfte der russischen Raketen versagt, weil sie entweder nicht gestartet sind oder ihr Ziel verfehlt haben.

Doch beim Abschuss einer Nuklearwaffe wäre die Genauigkeit viel weniger wichtig. Atomwaffenhistoriker Wellerstein sieht stattdessen in den Sprengköpfen die Achillesferse. Einige Sprengköpfe seien bereits vor Jahrzehnten entwickelt worden. Im Laufe der Zeit mussten bestimmte Komponenten also ausgetauscht und durch neue ersetzt werden. Manche Ersatzteile gebe es möglicherweise gar nicht mehr, sagt der Experte. In solch einem Fall könne man “nur hoffen”, dass der Sprengkopf auch ohne die Teile noch funktioniert.

Ein solches Problem ist aus den frühen 2000er Jahren bekannt: Die Amerikaner hatten Schwierigkeiten, ein geheimes Material mit dem Codenamen Fogbank für ihre Nuklearsprengköpfe zu beschaffen. Die Militäringenieure mussten sich einen neuen Herstellungsprozess ausdenken, erst nach ein paar Jahren gelang es ihnen. Wellerstein hält es für möglich, dass die Russen ähnliche Probleme haben.

Russlands Atomwaffen nur noch “rostiger Müll”?

Moritz Kütt sieht die Ersatzteil-Problematik dagegen weniger kritisch. Der Großteil der russischen Kernwaffen sei durch das viele Geld, welches Moskau auch nach dem Kalten Krieg noch in die nukleare Ausrüstung gesteckt hat, gut intakt. “Wir können davon ausgehen, dass die meisten russischen Waffen maximal zehn Jahre alt sind und regelmäßig instandgehalten, quasi auseinander und wieder zusammengebaut werden.”

Auch der Atomwaffen-Experte Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr in München ist davon überzeugt, dass die Russen über eine ausreichend große Menge an funktionierenden Kernwaffen verfügen. “Atomwaffen halten jahrzehntelang. Es gibt Schätzungen aus den USA, nach denen Atomwaffen 70, 80 Jahre funktionsfähig bleiben”, wird Sauer vom ZDF zitiert.

Zuletzt hatte auch der ehemalige KGB-Spion Juri Schwez Spekulationen über die Funktionsfähigkeit russischer Atomwaffen ausgelöst. Weil in Russland kein Plutonium mehr produziert werde, vermutet Schwez, “dass Atomwaffen in der Russischen Föderation nicht mehr existieren”. Putin habe das Abrüstungsabkommen “New Start” mit den USA verlassen, weil ausländische Inspektoren ansonsten “rostigen Müll statt Atomsprengköpfe finden” würden.

“Besser davon ausgehen, dass sie funktionieren”

Von dieser Aussage halten deutsche Nuklearspezialisten aber nichts. Zum einen wäre der kolportierte schlechte Zustand der Atomwaffen bei früheren Inspektionen im Rahmen von “New Start” bereits aufgefallen, mahnt Sauer an. Zum anderen könne für den Atombombenbau auch “hoch angereichertes Uran” und nicht nur Plutonium verwendet werden, wenn dieses verbraucht wäre, sagt Ulrich Kühn, Leiter des Forschungsbereichs Rüstungskontrolle und neue Technologien am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik.

Auch das Wired-Magazin denkt, dass es besser ist, “davon auszugehen, dass Atomwaffen im Ernstfall funktionieren werden”.

Dass die zerstörerischen Bomben eines Tages tatsächlich wieder zum Einsatz kommen, halten Experten aber dennoch für unwahrscheinlich. Der militärische Nutzen einer Atombombe in der Ukraine wäre für Russland gering. Wer eine Nuklearwaffe zündet, riskiert schließlich seine eigene Auslöschung.

“Wieder was gelernt”-Podcast

“Wieder was gelernt” ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.

Alle Folgen finden Sie in der ntv App, bei RTL+ Musik, Apple Podcasts und Spotify. “Wieder was gelernt” ist auch bei Amazon Music und Google Podcasts verfügbar. Für alle anderen Podcast-Apps können Sie den RSS-Feed verwenden.

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