Allmählich beruhigt sich die Lage in Frankreich, die Proteste ebben ab. Jetzt folgt die Aufarbeitung. So ist ein Mann während der Proteste getötet worden – womöglich durch ein Gummigeschoss von der Polizei. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun wegen Körperverletzung mit Todesfolge.
Die gewaltsamen Unruhen in Frankreich sind weiter abgeflaut. “Die Lage hat sich nahezu normalisiert”, sagte Premierministerin Elisabeth Borne. Allerdings ermittelt die Justiz in zwei Fällen, bei denen junge Männer möglicherweise von Gummigeschossen der Polizei getroffen wurden. Ein 27-Jähriger in Marseille war in der Nacht zum Sonntag getötet worden, ein weiterer junger Mann aus Mont-Saint-Martin nahe der belgischen Grenze lag im Koma.
Im Fall des 27-Jährigen ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Körperverletzung mit Todesfolge. Auch die Polizei-Aufsichtsbehörde sei eingeschaltet, hieß es aus Ermittlerkreisen. Aber es sei noch offen, ob es einen Zusammenhang mit den Unruhen gebe. Der Anwalt des jungen Mannes im Koma kündigte an, Klage wegen versuchten Totschlags einzureichen. Der Einsatz von Gummigeschossen ist in Frankreich umstritten. Während der sozialen Proteste der sogenannten Gelbwesten 2018/19 waren mehrere Menschen durch Gummigeschosse verletzt worden.
Die seit einer Woche andauernden Unruhen in den Vororten waren nach der Erschießung eines 17-jährigen Nahel M. durch einen Polizisten während einer Verkehrskontrolle entflammt. In der Nacht zum Mittwoch wurden nach Angaben des Innenministeriums jedoch nur noch 16 Menschen festgenommen, acht Gebäude wurden beschädigt. Es gab zudem den Angaben zufolge rund hundert Brände im öffentlichen Raum, in erster Linie brennende Mülltonnen. Etwa 80 Fahrzeuge brannten ab.
Insgesamt hatten die Ausschreitungen damit ein geringeres Ausmaß als in den Vornächten. Busse und Straßenbahnen sollten am Mittwochabend wieder landesweit wie üblich fahren, nachdem über mehrere Abende und Nächte hinweg ihr Betrieb wegen der Ausschreitungen eingestellt worden war.
“Ich hoffe, dass der Polizist verurteilt wird”
Erneut waren in der Nacht zum Mittwoch landesweit 45.000 Sicherheitskräfte im Einsatz. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte bekräftigt, dass die massive Polizeipräsenz beibehalten werde. Seit Beginn der Unruhen am 27. Juni wurden insgesamt etwa 3600 Menschen festgenommen, unter ihnen knapp ein Drittel Minderjährige. Etwa 990 wurden einem Richter vorgeführt, 380 von ihnen kamen in Haft.
Die französische Regierung kündigte an, im Fall weiterer Unruhen den Gebrauch der Onlinenetzwerke möglicherweise einzuschränken. Vorstellbar sei etwa, die Ortungsdienste vorübergehend abzuschalten, sagte Regierungssprecher Olivier Véran. Bei den jüngsten Unruhen sollen Randalierer solche Dienste genutzt haben, um sich in Konfliktzonen zu sammeln. Von einer generellen Abschaltung könne jedoch keine Rede sein, betonte Véran.
Der Vater des von einem Polizisten erschossenen Nahel kündigte an, im Prozess als Nebenkläger aufzutreten. “Ich hoffe, dass der Polizist verurteilt wird”, sagte er. “Er hat mir alle meine Hoffnung genommen.” Der Vater hatte nach eigener Aussage keinen Kontakt zu seinem Sohn, dabei aber nie die Hoffnung aufgegeben, ihm eines Tages wieder näherzukommen.
Vorwurf des Rassismus
Das Verhältnis zwischen den Behörden und der Bevölkerung der Pariser Vorstädte ist seit Jahren angespannt. Vor allem der Polizei wird rassistisches Vorgehen vorgeworfen. Die Toten bei Polizeieinsätzen sollen laut Kriminologen Sebastian Roché überproportional häufig ethnischen Minderheiten angehören, sagte er der Regionalzeitung “La Voix du Nord”. Seiner Meinung nach sei die französische Polizei die tödlichste in Europa, wie er wiederum der “Zeit” sagte.
Der Politikwissenschaftler Jacques de Maillard pflichtet dem Kriminologen bei: “Das sich verschlechternde Verhältnis zwischen der Polizei und jungen Männern der Arbeiterklasse, die ethnischen Minderheiten angehören, ist ein Schlüsselelement der Situation in Frankreich”, sagte er der Deutschen Welle. Eine Auswertung der unabhängigen Behörde “Défenseur des droits” zeigt zudem, dass dunkelhäutige und nordafrikanische Männer 20-mal eher in eine Personenkontrolle geraten als der Rest der Bevölkerung.
Das UN-Menschenrechtskommissariat rief Frankreich auf, “sich ernsthaft mit den tiefgreifenden Problemen des Rassismus und der Rassendiskriminierung bei der Strafverfolgung auseinanderzusetzen”. Das französische Außenministerium bezeichnet die Vorwürfe, dass die Polizei rassistisch sei oder dass sie strukturell diskriminiere als unbegründet.