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Es gibt keine Wunderwaffe – und andere Lehren aus einem Jahr Krieg

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Für Rückschlüsse aus einem Kriegsverlauf ist Vorsicht geboten – unter anderem, weil alle Kriegsparteien dazulernen. Doch einige Lehren lassen sich aus dem ersten Jahr Ukrainekrieg ziehen – auch für die Wehrhaftigkeit Deutschlands und der NATO.

1. Es gibt keine Wunderwaffe

“Ist das jetzt der game changer?” Kaum ein Gespräch über Waffengattungen und neue Technologie auf dem Schlachtfeld, ohne dass irgendwann diese Frage kommt. Dabei lässt sie sich ganz grundsätzlich und für jegliche Waffe beantworten: Nein. Weder Haubitze A, noch Drohne B oder Mehrfachraketenwerfer C werden im Krieg allein das Ruder rumreißen. Das haben sie auch in der Ukraine nicht getan.

Wichtiges leisten konnten einige Waffen – die Stinger etwa, die von der Schulter gefeuert gleich in den ersten Wochen reihenweise russische Panzer zerstörten. Die Bayraktar-Drohnen aus der Türkei, der deutsche Gepard für die Flugabwehr, die amerikanischen HIMARS Artilleriesysteme, deren Raketen weit hinter der Frontlinie die russischen Nachschubketten zerlegten.

Dem HIMARS-System verpasste man in der hiesigen Berichterstattung mehrfach das Label “Wunderwaffe” wegen seiner enormen Zielgenauigkeit auf große Entfernung. Doch seinen Erfolg feierte der Raketenwerfer auch durch das Versagen der russischen Seite: Große zentrale Munitionsdepots boten perfekte Ziele, um mit präzisen Schlägen große Wirkung zu erzielen. Hätten die russischen Truppen von Anfang an ihre Nachschubketten dezentral und mobiler organisiert, dann hätten die HIMARS-Treffer wesentlich weniger Schaden angerichtet.

Auch hatten und haben die Russen Probleme damit, ihre eigene Aufklärung zeitnah auszuwerten und Angriffe danach auszurichten. Die Kommandostruktur behindert häufig eine zeitnahe Reaktion. Darum gelang es den russischen Truppen bislang kaum, die Raketen zu orten und ihrerseits anzugreifen.

War HIMARS also nur so gut, weil die russische Aufklärung so schlecht war? Nicht nur, aber auch. Ob eine Waffe ihre Fähigkeit voll ausspielen kann, hängt maßgeblich von diesen zwei Faktoren ab: Wird sie klug eingesetzt, von erfahrenen Soldaten gehandhabt und auf die Ziele ausgerichtet, gegen die sie ihre Stärken voll ausspielen kann? Und als zweiter Faktor: Hat der Gegner eine adäquate Antwort auf die Waffe? Beide Fragen sind ebenso wichtig wie die Eigenschaften der Waffe selbst. Entsprechend wertvoll ist es für westliche Armeen schon jetzt, die Leistungen und auch die Limits ihrer Waffen in diesem Krieg auszuwerten.

2. Auf den Verbund kommt es an

Punkt 2 ist die Schlussfolgerung aus Erkenntnis Nummer 1: Eine Waffe allein macht für den gesamten Kriegsverlauf nicht den Unterschied. Nötig ist für eine moderne Armee, sich breit aufzustellen, mit Fähigkeiten in allen Dimensionen, sei es Luft, Land, See, Weltraum, Cyberspace oder das elektromagnetische Feld.

Doch es reicht nicht, in allen Domänen mit irgendetwas operieren zu können. Für den Erfolg im Kampf ist entscheidend, ob die unterschiedlichen Kräfte miteinander verbunden agieren oder nicht. “Multi domain operations” nennt die NATO diesen “Kampf der verbundenen Waffen”. Er ist “das Nonplusultra der modernen Kriegsführung und die Basis für alle zukünftigen NATO-Operationen und US-Militärdoktrinen, die neu konzipiert werden”, sagt Militärexperte Franz-Stefan Gady ntv.de.

Perfekt ausgeführt könnte das zum Beispiel so aussehen: Ein Bataillon aus Kampfpanzern rückt vor, flankiert von Grenadieren in Schützenpanzern, die Jagd auf feindliche Fußsoldaten machen. Die Flugabwehr hält den Panzern Gefahren aus der Luft vom Leib. Von hinten schießt ihnen Artillerie den Weg durch die ersten Stellungen des Gegners frei. Eine Einheit für elektronische Kriegsführung stört die Kommunikation in den feindlichen Linien und schickt den gegnerischen Soldaten eine SMS aufs Handy mit der Aufforderung, sich sofort zu ergeben.

Die Fähigkeit zum taktischen Zusammenspiel macht den Angriff kraftvoller und sicherer. Dass weder die Ukrainer noch die Russen den Kampf der verbundenen Waffen beherrschen, liest Experte Gady, der für das Londoner Institute for International Strategic Studies (IISS) forscht, auch aus den hohen Verlusten ab. Erfolgreicher Kampf der verbundenen Waffen ist zum einen eine Frage der Übung. Durch gemeinsames Training muss Vertrauen und Routine aufgebaut werden. Zum anderen müssen die technischen Systeme miteinander kompatibel sein.

Unter diesem Aspekt wird es zu einem Problem, wenn etwa die Bundeswehr aktuell mit veralteten Funkgeräten arbeitet, die den Kontakt zu NATO-Partnern nicht mehr herstellen können. Eine Fähigkeitslücke, die in einem zukünftigen NATO-Einsatz die Abstimmung untereinander enorm erschweren würde. Gefahr erkannt – in den kommenden Monaten wird modernisiert.

“In der Struktur künftiger Streitkräfte brauchen wir Hybridität”, sagt Gady. Alte, verlässliche Systeme wie die Panzerhaubitze 2000, Gepard oder den Leopard II, gepaart mit Drohnen und anderen technologisch hochentwickelten Systemen. “Das Miteinander zu integrieren wird die Herausforderung der Zukunft sein.”

3. Die NATO braucht mehr Reserven

Die hohen Verluste an Menschenleben und Material im Kriegsverlauf lassen vermuten, dass auch in einem künftigen hochintensiven Krieg zwischen Staaten die besten Einheiten sehr schnell sehr stark dezimiert würden. Grund dafür sind zum einen die Fähigkeiten moderner Waffensysteme, eine hohe Zahl an Verlusten zu verursachen. Gleichzeitig würden die besten Einheiten an den Frontabschnitten eingesetzt werden, wo am heftigsten gekämpft wird – eine Art “Frontfeuerwehr”.

“Ein hochintensiver Krieg wäre nicht vergleichbar mit den Operationen, wie wir sie aus den letzten 20 Jahren aus dem Irak und Afghanistan kennen”, sagt Zukunftsforscher Gady. “In einem konventionellen Krieg zwischen größeren Militärmächten müsste man mit sehr großen Verlusten, Zehntausenden Toten und Verwundeten in den ersten Tagen rechnen.”

Die Ukraine hat im ersten Jahr des Krieges vermutlich zwischen 120.000 und 130.000 Soldatinnen und Soldaten verloren. Zugleich stand ihr eine 900.000 Mann starke, erfahrene Reserve zur Verfügung, die innerhalb der letzten fünf Jahre in den Streitkräften gedient hatte. Auch besteht in der Ukraine eine allgemeine Wehrpflicht.

Im Vergleich kommt die Bundeswehr schlecht weg: Dort gibt es derzeit etwa 31.000 Stellen für die Reserve. “Sie übt aber kaum, sie hat keinen systematischen Ansatz, wie sie im Ernstfall verwendet werden könnte, in dem man relativ schnell nicht nur 30.000 zusätzliche Kräfte brauchen würde, sondern 200.000 bis 300.000”, sagt Gady. “Diese Kapazitäten haben wir in Deutschland nicht mehr.”

Doch das Problem hat nicht nur Deutschland: “Kein anderes Land der NATO hätte einen solchen Angriff, wie ihn Russland jetzt gegen die Ukraine führt, lange durchgehalten”, analysiert Gady. Weder die britischen Streitkräfte sieht er dazu in der Lage, noch die Polen oder Franzosen. “Aus dem einfachen Grund, weil wir in diesen Armeen nicht mehr die Art der Reserven haben, wie sie die Ukraine hat.”

Aus Sicht des Militärexperten sollte die Konsequenz für Deutschland und alle NATO-Staaten sein, wesentlich mehr Aufwand für die Bereitstellung und das Training von Reserveverbänden zu betreiben, um sie an die jetzige Bedrohungssituation anzupassen. “Dazu gehören auch großräumige Übungen, die Reserven auf Brigade- und Divisionsebene einbinden, um den Kampf der verbundenen Waffen zu üben. Das brauchen wir.”

4. Technologie von Privatunternehmen ist nicht die Lösung

Als Russland per Cyberangriff das Satellitennetz lahmlegte, über das die ukrainische Armee kommuniziert hatte, war Starlink die Rettung: Elon Musks Firma SpaceX ersetzte mit seinem Satellitennetzwerk das ausgefallene System und bewahrte die ukrainischen Kommandos vor einem Desaster. Auch Amazon half der Ukraine mit Datenübertragung.

“Starlink ist in vielerlei Hinsicht die Lebenslinie für schnelle ukrainische Gegenschläge, da sie eine schnelle Aufklärung des Gefechtsfelds und Koordination zwischen verschiedenen Elementen und Einheiten ermöglicht”, sagt Gady.

Doch der hohe Nutzen, den Kiews Armee aus dem privaten Satellitennetzwerk zog, schuf zugleich auch ein hohes Risiko. Spätestens als SpaceX-Präsidentin Gwynne Shotwell im Januar bei einer Raumfahrtkonferenz erklärte, Starlink sei nicht dazu gedacht gewesen, als Waffe eingesetzt zu werden, wurde deutlich, wie fragil diese Unterstützung ist.

Schon im vergangenen Herbst hatte die Einschränkung von Starlink-Anwendungen vor allem die Durchführung offensiver Operationen erschwert. Shotwells Aussage ließ darauf schließen, dass diese Einschränkungen vom Unternehmen beabsichtigt waren. Die militärische Abhängigkeit der Ukraine von SpaceX fiel den Truppen auf die Füße. Es zeigte sich, wie fragil solche Formen der Zusammenarbeit mit privaten Unternehmen sind, die im Zweifelsfall andere Interessen verfolgen, als die Armee, die sie beliefern.

Ein zweiter Punkt spricht dagegen, sich auf Technologie aus der Privatwirtschaft zu sehr zu verlassen: Denn die Starlink-Geräte, die zu Tausenden in der Ukraine die entscheidende Möglichkeit zur Kommunikation offen halten, funktionieren nur deshalb so gut, weil die notwendigen Starlink-Bodenstationen in Polen, Estland und der Türkei stationiert sind. Auch Amazon arbeitet mit Servern, die sich außerhalb der Ukraine befinden.

Beide Unternehmen operieren also aus sicheren Häfen, die außerhalb des Kriegsgebiets auf NATO-Territorium stehen. Russland kann hier nicht angreifen. Das sichert diese Lieferkette für die Ukraine, wäre jedoch nicht gegeben bei einem möglichen künftigen Krieg zwischen zwei Großmächten, an dem die NATO beteiligt wäre. Es gäbe dann im Gebiet der Allianz keine sicheren Ort, und die stationäre Technik der privaten Unternehmen wäre lohnendes Ziel für den Gegner, zum Beispiel für Hyperschallraketen. Aufgrund dieser Faktoren warnt Gady vor übermäßigem “Vertrauen auf den kommerziellen Sektor bei der Bereitstellung technischer Unterstützung in einem künftigen Großmächtekrieg”. Darauf zu setzen, sei “wahrscheinlich die falsche Konsequenz aus der Ukraine”.

5. Ein Kriegsverlauf ist nicht vorhersagbar

So sehr die Menschen in vielen Staaten der Erde der Ukraine am 24. Februar 2022 die Daumen drückten – nur wenige Einschätzungen von Expertinnen und Experten gaben Anlass zur Hoffnung. Zu überlegen erschienen die russischen Streitkräfte an Mensch, Material und Mobilität.

Die Fachleute analysierten richtig: Die Feuerkraft der russischen Waffen, die Nachschubmöglichkeiten, der Logistikapparat – all das war den Fähigkeiten der Ukraine überlegen. Was jedoch kaum jemand im Februar 2022 ahnte: Russland würde in jenen ersten Wochen des Krieges weitreichende strategische Fehler begehen. Es würde sich verwundbar machen gegenüber dem Verteidigungskampf der Ukrainer.

Wie das geschehen konnte? Der Kreml fühlte sich siegessicher. Moskau hatte nicht damit gerechnet, dass dieser Krieg länger dauern würde als wenige Tage. Vom Widerstand der Überfallenen wurden Russlands Truppen und ihre Führung kalt erwischt, während die Ukrainer in jede Fähigkeitslücke stießen, die der Angreifer offenbarte.

Hinzu kam eine Disziplin, in der die Ukrainer den Russen klar voraus waren: Kampfmoral. Die war auf russischer Seite kaum vorhanden. Hatte doch der Kreml seinen eigenen Truppen zum Teil ähnliche Lügen aufgetischt wie der westlichen Welt: Man würde nur zum Manöver aufmarschieren. Vielen Soldaten erschloss sich nicht, was sie beim Nachbarn eigentlich zu suchen hatten. Die Ukrainer wiederum kämpften mit dem Mut der Verzweiflung – ums Überleben ihrer Nation, ihrer Landsleute.

In der Rückschau wirkt das nun so einleuchtend, als sei von Beginn an klar gewesen, dass die Ukraine dem Angriff würde standhalten können. Aber auch diese Annahme wäre ein Fehler. Denn zu den Fähigkeiten der Truppen auf allen Ebenen kommen immer auch Faktoren von außen hinzu – sei es, sehr banal, das Wetter oder, noch banaler, der Faktor Zufall. Oft entscheidet der Zufall darüber, ob etwa ein Missgeschick auf dem Schlachtfeld sich zu einem Treiber für den Kriegsverlauf auswächst oder nicht. Etwa Reserven, die nicht rechtzeitig eintreffen, um eine Lücke an der Front zu schließen.

Viele einzelne Faktoren, die zu Sieg oder Niederlage einer Seite beitragen könnten, lassen sich vorher einschätzen, niemals jedoch ihr Zusammenspiel. Vor Personen, die behaupten, sie wüssten, wie dieser Krieg endet, sollte man sich hüten.

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