In Frankreich reißt die Serie nächtlicher Ausschreitungen nicht ab. Der Staat schickt Zehntausende Sicherheitskräfte auf die Straßen. Das öffentliche Leben wird stark eingeschränkt. Wieder werden Hunderte Randalierer festgenommen. Inzwischen wendet sich auch die Fußball-Nationalmannschaft an die Menschen.
In Frankreich ist es die vierte Nacht in Folge zu teils massiven Ausschreitungen gekommen. In den Städten Lyon, Marseille und Grenoble plünderten herumziehende Gruppen am Freitagabend Geschäfte. Demonstranten setzten auch erneut Autos und Mülltonnen in Brand. In Straßburg griffen Randalierer bereits vor Einbruch der Dunkelheit einen Apple Store und andere Geschäfte an. Zudem kam es auch in einigen französischen Überseegebieten zu Krawallen. Erneut gab es Hunderte Festnahmen. Um gewaltsame Proteste zu unterbinden, waren landesweit 45.000 Polizisten und Gendarmen im Einsatz. Zudem war am Abend überall der Verkehr von Bussen und Straßenbahnen eingestellt worden. Auslöser der Krawalle waren tödlichen Polizeischusses auf einen 17-Jährigen.
Wie Innenminister Gérald Darmanin mitteilte, wurden bei den jüngsten Ausschreitungen laut einer vorläufigen Bilanz 270 Menschen festgenommen, davon 80 in Marseille. Seit Ausbruch der Unruhen seien damit mehr als 1100 Personen festgenommen worden. In die südfranzösische Hafenstadt hätten die Sicherheitskräfte inzwischen “Verstärkungen” entsandt, twitterte er. Der Bürgermeister von Marseille hatte diefranzösische Regierung aufgefordert, unverzüglich weitere Ordnungskräfte nach Marseille zu schicken. “Die Szenen von Plünderungen und Gewalt sind inakzeptabel”, twitterte er. Bilder in den sozialen Medien zeigen eine Explosion im alten Hafen von Marseille. Nach Auskunft der Behörden ist die Ursache noch ungeklärt. Es habe keine Verletzten gegeben.
Die Gendarmerie setzte in der Nacht zum Samstag gepanzerte Fahrzeuge ein, um die Lage in den Griff zu bekommen. In ganz Frankreich wurden Großveranstaltungen abgesagt. Auch der Verkauf von Feuerwerkskörpern, Benzinkanistern sowie entzündlichen und chemischen Produkten sollte systematisch unterbunden werden. Mindestens drei Gemeinden in der Nähe von Paris sowie mehrere andere Orte verhängten nächtliche Ausgangssperren.
Macron: Festgenommene “jung, manchmal sehr jung”
In Cayenne, der Hauptstadt des südamerikanischen Französisch-Guayana, wurde ein Mann in der Nacht zum Freitag (Ortszeit) durch einen Querschläger getötet, wie die örtlichen Behörden mitteilten. Nach Medienberichten handelte es sich bei dem Mann um einen Mitarbeiter der Lokalverwaltung. Der Präfekt Thierry Queffelec verbot nach offiziellen Angaben daraufhin am Freitag für die folgenden zwei Nächte das Tragen von Waffen und bis Montag den Transport brennbarer Stoffe. Auch im karibischen Überseegebiet Martinique kam es nach einem Bericht des regionalen Portals France-Antilles in der Nacht zum Freitag zu Gewalt. Etwa 20 bis 30 Vermummte warfen demnach in der Hauptstadt Fort-de-France mit Steinen auf Polizisten. An mehreren Orten seien Mülltonnen angezündet worden.
Präsident Emmanuel Macron hatte zuvor auf einer Krisensitzung eine “inakzeptable Instrumentalisierung des Todes eines Jugendlichen” angeprangert. Rund ein Drittel der Festgenommenen sei “jung, manchmal sehr jung”. Macron hatte an die Eltern appelliert, dafür zu sorgen, dass sich ihre Kinder nicht an den gewaltsamen Protesten beteiligten. Der Präsident forderte zudem Onlinenetzwerke wie Snapchat oder Tiktok zu einem “verantwortungsbewussten Umgang” mit den Protesten auf. Auf diesen Plattformen würden “gewalttätige Versammlungen” organisiert.
Mbappé: Verstehen die Wut – die Form nicht
Derweil rief die französische Nationalmannschaft dazu auf, die Gewalt zu beenden und stattdessen Raum für “Trauer, Dialog und Wiederaufbau” zu geben. Es müssten sich “friedlichere und konstruktivere Wege” finden lassen, “sich zu äußern”, hieß es in der von Kapitän Kylian Mbappé veröffentlichten Erklärung. “Seit diesem tragischen Ereignis sind wir Zeuge des Ausdrucks der Wut der Bevölkerung, deren Inhalt wir verstehen, deren Form wir jedoch nicht gutheißen können”, heißt es in Mbappés Statement weiter. Viele Spieler würden selbst aus den Arbeitervierteln kommen und könnten den Schmerz und die Traurigkeit nachvollziehen. Aber Gewalt löse keine Probleme.
Auch Nationaltrainer Didier Deschamps meldete sich zu Wort. “Während unser Land leidet, haben unsere Spieler beschlossen, zur Ruhe aufzurufen. Ich begrüße ihre Initiative, der sich meine Mitarbeiter und ich anschließen”, sagte der 54-Jährige laut RMC Sport.
Allein in der Nacht zu Freitag waren den Behördenangaben zufolge trotz des massiven Polizei-Aufgebots 492 Gebäude angegriffen, rund 2000 Fahrzeuge in Brand gesteckt und Dutzende Geschäfte geplündert. es gab 900 Festnahmen. Am Rande der Proteste starb ein junger Mann nach einem Sturz von einem Dach. Laut Polizei und Staatsanwaltschaft ereignete sich der Vorfall in der Nacht zum Freitag im nordfranzösischen Petit-Quevilly nahe der Stadt Rouen. Über die genauen Umstände gab es allerdings unterschiedliche Angaben. Vertreter von Polizei und Präfektur teilten zunächst mit, zu dem Unfall sei es “im Rahmen einer Plünderung” eines Supermarktes gekommen. Später hieß es jedoch, die Ermittlungen zu den Umständen dauerten an.
Polizeigewerkschaften: Kampf gegen diese ‘Schädlinge’
Ausgelöst worden waren die Proteste und Ausschreitungen durch den Tod des 17-jährigen Nahel M. Der Jugendliche war am Dienstag bei einer Verkehrskontrolle in der Pariser Vorstadt Nanterre von einem Polizisten erschossen worden. Er soll nach Angaben des Bürgermeisters von Nanterre, Patrick Jarry, am Samstag beerdigt werden.
Gegen den mutmaßlichen Schützen wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Ihm wird laut Staatsanwaltschaft “vorsätzliche Tötung” vorgeworfen. Nach Angaben seines Anwalts Laurent-Franck Liénard bat der in Untersuchungshaft befindliche Beamte die Familie des Opfers um Verzeihung.
Für Kritik sorgte unterdessen ein scharf formulierter Aufruf zweier Polizeigewerkschaften zum “Krieg” gegen die Protestierenden. “Jetzt ist nicht die Zeit für den Arbeitskampf, sondern für den Kampf gegen diese ‘Schädlinge'”, erklärten die Alliance Police Nationale und Unsa Police.
Deutschland, Großbritannien und die USA riefen Bürger mit Reiseplänen in Frankreich wegen der Unruhen zur Vorsicht auf und aktualisierten ihre Sicherheitshinweise.