Nur langsam und mit hohen Verlusten befreit die Ukraine Stück für Stück besetztes Gebiet. Dafür muss sich Kiew viel Kritik gefallen lassen. Noch ist es für eine Prognose aber zu früh – denn das Militär hat seine Taktik an der Front verändert.
Es ist inzwischen kein Geheimnis mehr, dass die erste Phase der ukrainischen Gegenoffensive für viele eine Enttäuschung war – nicht zuletzt für die Ukraine selbst. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte unlängst in einem Interview mit der BBC eingeräumt, dass die Vorstöße langsamer vorangehen als geplant. Gleichzeitig versicherte er am Wochenende: Die Ukraine mache Fortschritte in allen Richtungen.
Eigenen Angaben zufolge hat das ukrainische Militär im Süden und Osten des Landes in der vergangenen Woche 37 Quadratkilometer besetzter Gebiete befreit. Rund um die Stadt Bachmut seien es 9 Quadratkilometer, an der Südfront 28 Quadratkilometer gewesen, schrieb die ukrainische Vizeverteidigungsministerin Hanna Maljar am Montag bei Telegram. Zum Vergleich: Das entspricht in etwa einem Viertel der Fläche der Stadt Augsburg.
Dazu kommen die hohen Verluste: Die ukrainische Seite nennt keine Zahlen ihrer verwundeten und getöteten Soldaten, Experten gehen aber auf beiden Seiten von schweren Verlusten aus. “Jeder Tag, jeder Meter ist mit Blut gefüllt”, sagte der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, kürzlich in einem Interview. Auch Panzer und anderen Waffen fallen dem Beschuss der Russen zum Opfer. Gleich zu Beginn der Offensive hatte die Ukraine mehrere Panzer westlicher Bauart verloren.
Russen gelingen punktuell Vorstöße
“Die Ukraine sowie viele westliche Alliierte sind unzufrieden mit der Offensive”, sagt Russland-Experte Gerhard Mangott bei ntv. “Es wurde erwartet, dass die Ukraine mit den westlichen Lieferungen schneller vorstoßen kann.” Stattdessen sei das, was man seit etwa vier Wochen erlebe, ein mühsames Voranarbeiten der Ukraine. Den großen Durchbruch habe man zwar nicht erwartet, “aber das, was die Ukraine bisher erreicht hat, war doch ziemlich enttäuschend”.
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba wiederum zeigte sich genervt von der anhaltenden Kritik. “Wir fühlen uns frustriert von denen, die jetzt sagen: Oh, das läuft nicht gut”, sagte er in einem Interview mit “Politico”. Er sei sich der mangelnden Fortschritte der Gegenoffensive durchaus bewusst. Aber jeder, sich beschwere, solle versuchen, auch nur “zehn Schritte auf dem Schlachtfeld zu gehen, ohne getötet zu werden”.
Fakt ist: Russland hält den Angriffen der Ukraine überraschend gut stand. “Sie haben sich gut vorbereitet und dazugelernt”, sagt der österreichische Militärexperte Oberst Markus Reisner im Interview mit ntv.de. Punktuell sind ihnen sogar selbst Vorstöße gelungen, beispielsweise bei Kreminna und nördlich von Bachmut. Die Gefechte im Osten seien für die Ukrainer “kompliziert”, sagte auch Selenskyj kürzlich.
Nächste Phase entscheidend
Laut Reisner ist eine Offensive dann als erfolgreich zu bezeichnen, wenn sich die Ergebnisse mit den Anstrengungen messen lassen. Aus militärischer Sicht sei das in der Landeskriegsführung, wenn bei einem Durchbruch entsprechende Geländegewinne gemacht werden. Ein Beispiel dafür war der nachhaltige Erfolg der Ukraine in Charkiw. “Das ist bei der derzeitigen Offensive bis jetzt aber nicht der Fall”, so Reisner.
Die erste Phase der Gegenoffensive erklärt Reisner deshalb als gescheitert. Man habe versucht, wie aus einem Lehrbuch der US-Armee massiert mit Panzerkolonnen vorzustoßen. Die Ukrainer hätten dann aber gemerkt, dass die Russen zu gut vorbereitet waren, um so einen Durchbruch zu erzielen. Zudem fehlte es ihnen an den notwendigen Unterstützungsmitteln für einen derartigen Angriff, wie beispielsweise ausreichende Luftunterstützung.
Entscheidend werde nun die nächste Phase sein. “Die Ukraine hat eine operative Pause eingelegt, sich konsolidiert und versucht jetzt, ihre Taktik und Gefechtstechnik zu ändern”, so Reisner. Mittlerweile greift die ukrainische Armee verstärkt mit kleinen Sturmgruppen an. “Diese Taktik ist zwar sehr langsam, aber sie hat Erfolg.” Denn im Vergleich mit einer Panzerkolonne, die relativ einfach im offenen Gelände – zum Beispiel mit Kampfhubschraubern – anzugreifen ist, sind die Soldaten zu Fuß im Schutz der Windschutzgürtel entlang der Felder viel schwerer zu treffen.
“Führt kein Weg dran vorbei”
Für einen schnellen Durchbruch fehlt es der Ukraine immer noch an wesentlichen Elementen, wie zum Beispiel einer funktionierenden Luftwaffe oder auch eine hohe Anzahl von Präzisions-Waffensystemen. Der ukrainische Oberbefehlshaber Saluschnyj fordert deshalb erneut westliche Kampfjets: “Da führt kein Weg dran vorbei.” Seine Streitkräfte würden sehr darunter leiden, dass Anti-Luft-, Anti-Hubschrauber- und Anti-Flugzeug-Waffen am Boden fehlen.
Für eine Einschätzung, ob die ukrainische Offensive Erfolg haben wird, ist es noch zu früh. Die Kämpfe werden noch Wochen, wenn nicht Monate anhalten. Bislang scheint die neue Taktik der Ukrainer aber zumindest kleinere Geländegewinne zu erzielen. Die ukrainische Vizeverteidigungsministerin Maljar meldet mehrere Vorstöße entlang der Frontlinie. Auch das Institute for the Study of War (ISW) berichtet in seinem aktuellen Bericht von neuen Geländegewinnen.