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Die Ukraine greift zum gepanzerten Walzen-Traktor

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Russland hat in der Ukraine Millionen Minen und Sprengfallen versteckt. In manchen Gebieten sind fast alle freien Flächen betroffen. Westliche Systeme sind keine Hilfe, deswegen werden Ukrainer selbst kreativ. Unter anderem kommen gepanzerte Traktoren kommen zum Einsatz.

Ende August bezahlt ein ukrainischer Bauer seine Arbeit beinahe mit seinem Leben. Im Süden des Landes möchte er in der Nähe von Nowa Kamjanka ein Feld kultivieren. Das Dorf liegt in der Region Cherson am westlichen Ufer des Dnipro, nicht weit vom früheren Kachowka-Stausee entfernt, in dem Gebiet, das zu den fruchtbarsten der Ukraine gehört. Doch der russische Terror macht auch vor der ukrainischen Landwirtschaft nicht halt. Als der Landwirt mit seinem Traktor sein Feld beackert, fährt er über eine Mine, die russische Truppen in den vergangenen anderthalb Jahren zurückgelassen haben.

Der 62-Jährige sei im Gesicht und an seinen Händen verletzt worden und werde im Krankenhaus behandelt, berichtet der “Kyiv Independent” unter Berufung auf die Militärverwaltung von Cherson. Er hat Glück im Unglück: Nur zwei Tage zuvor bezahlt ein Landwirt im 40 Kilometer benachbarten Nowopetriwka seine Feldarbeit mit dem Leben.

87 Prozent der Fläche vermint

Es ist schwer greifbar, wie viele Landminen Russland in der Ukraine versteckt und hinterlassen hat. Der ukrainische Innenminister Ihor Klymenko erklärte im März, russische Truppen hätten seit Kriegsbeginn etwa ein Drittel der Landesfläche vermint. Allein in der umkämpften Region Cherson im Süden der Ukraine sollen 87 Prozent der offenen Fläche mit Anti-Panzer- oder Anti-Personen-Minen zugepflastert worden sein.

Die Sprengfallen sollen ukrainische Truppen verletzen, töten oder ihre Bewegungsfreiheit so weit einschränken, dass sie ein leichtes Ziel für die russische Artillerie auf der anderen Seite des Dnipro sind, bedrohen aber auch das Leben der Zivilbevölkerung. Mit Drohnen und Wärmebildkameras konnten ukrainische Einheiten im August an heißen Sommertagen enthüllen, womit sie sich bei ihrer Gegenoffensive auseinandersetzen müssen: Teilweise warten mehr als 50 Sprengfallen auf einer Fläche gerade so groß wie 40 Fußballfelder.

“Wir können nicht warten”

“Erst sollten Pioniere auf den Feldern arbeiten, dann ihr”, ermahnen die ukrainischen Behörden daher die Landwirte in den befreiten Gebieten von Cherson. Doch die Pioniere werden an der Front benötigt, wo sie russische Minenfelder nachts per Hand räumen. Selbst mit ihrer Hilfe könnte es zehn oder 20 Jahre dauern, das gesamte betroffene Gebiet mit den bekannten Methoden und Mitteln abzugrasen und zu sichern.

So lange können die ukrainischen Landwirte nicht warten. Wenn sie ihre Felder nicht bestellen, kein Getreide aussäen und später ernten, verdienen sie kein Geld und müssen hungern. Deswegen werden viele von ihnen erfinderisch oder blenden – wie Landwirt Bohdan in der Schwarzmeer-Region Mykolajiw – einfach jedes Risiko aus: Im Alleingang hat er Raketen, Streumunition und Minen auf seinen Feldern eingesammelt und alles, was nicht explodiert ist, selbst zur Detonation gebracht.

“Wir können nicht warten”, erzählt er bei Radio Liberty. “Die Menschen brauchen Jobs und etwas zu essen.”

Olexander Kryvtsow sieht es genauso, geht südlich von Charkiw aber nicht ganz so riskant vor. Er hat Überbleibsel der russischen Besatzer ausgeschlachtet und mit den Schutzplatten von zerstörten Panzern und anderen Militärfahrzeugen einen Traktor verstärkt. Aus anderen Teilen baute er eine riesige Bagger-ähnliche Schaufel, die vorn anmontiert werden kann. Seitdem fährt er ferngesteuert mit seinem selbst gebauten Minenräumer seine Felder ab – erfolgreich, wie er bei Reuters erklärt: Als er eine Mine erwischte, sei die Schaufel kaputtgegangen, der Traktor aber nicht beschädigt worden. Nach einer kurzen Reparatur konnte Olexander weitermachen.

“Metalldetektor hat nicht reagiert”

Es gebe sehr viele Ansätze, sagt Tymofij Milowanow. Im ganzen Land kämen neben Traktoren und furchtlosen Landwirten auch Radargeräte, Wärmebildkameras oder akustische Systeme zum Einsatz. Doch von denen ist der frühere ukrainische Minister für wirtschaftliche Entwicklung und heutige Präsident der ukrainischen Wirtschaftsschmiede Kyiv School of Economics (KSE) nicht überzeugt: Kameras helfen beim Entdecken von Minen, nicht beim Räumen oder Entschärfen, sagt der Ökonom im “Wieder was gelernt”-Podcast von ntv.de.

Ein weiteres Problem: Viele Systeme können oft nur eine bestimmte Art von Mine entdecken, Russland aber setzt nach Angaben von Human Rights Watch mindestens 13 verschiedene Typen Sprengfallen ein. Manchmal reicht eine Last von fünf Kilogramm, um die Detonation auszulösen. Andere Minen reagieren bereits auf Schritte in anderthalb Metern Entfernung. Wieder andere sind klein wie ein Finger und praktisch nicht zu sehen.

Wo finde ich “Wieder was gelernt”?

Alle Folgen von “Wieder was gelernt” können Sie in der ntv-App hören und überall, wo es Podcasts gibt: RTL+, Amazon Music, Apple Podcasts, Google Podcasts und Spotify. Mit dem RSS-Feed auch in anderen Apps. Sie haben eine Frage? Schreiben Sie uns gerne eine E-Mail an [email protected]

“Es gibt viele Herausforderungen”, sagt Tymofij Milowanow. Der Ökonom nennt Plastikminen als besonders schwieriges Beispiel. Diese sind nicht nur klein, sondern bestehen teilweise nur zu fünf Gramm aus Metall. “Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie ein Metalldetektor genau darüber war und nicht reagiert hat”, sagt der KSE-Präsident im Podcast.

Auch professionelle westliche Minenräumsysteme sind seinen Angaben zufolge keine große Hilfe. Denn die leisten zwar hervorragende Arbeit, aber sie sind zeitaufwendig im Einsatz und daher keine Hilfe für das, was Russland gemacht hat: Nahezu einen ganzen Landesteil zu verminen.

Minen platt walzen

Der Ökonom bevorzugt fürs Räumen simple, aber massive mechanische Lösungen. Eine davon hat er sich vor wenigen Wochen in einer Fabrik in Charkiw angeschaut und anschließend auf Twitter vorgestellt. Sie funktioniert ähnlich wie der umgebaute Traktor von Landwirt Olexander Kryvtsow, vor das ferngesteuerte Fahrzeug wird aber keine Schaufel gespannt, sondern eine große, acht Tonnen schwere Walze. Die wird über das Feld gerollt, löst mit ihrem Gewicht alle Minen aus und absorbiert mit ihrer Masse die Wucht der Detonationen.

Der Vorteil der Walze ist nach Angaben von KSE-Präsident Milowanow, dass sie massenhaft vor Ort in der Ukraine hergestellt werden kann. Wird eine zerstört, kann sie unkompliziert ausgetauscht, repariert oder auch eingeschmolzen und recycelt werden.

Das mühsame Aufspüren von Minen würde sich damit erübrigen, sagt der Ökonom – vorausgesetzt, es gibt einmal genug Walzen, die noch etwas standfester und in der Herstellung nicht mehr so teuer sind. Dann könnten verminte Flächen abgesteckt und von mehreren Walz-Traktoren gleichzeitig beackert werden. Ganz egal, ob es sich um landwirtschaftliche Felder oder andere Freiflächen handelt.

“Die Russen haben viele Flächen um Energie-Infrastruktur vermint”, erzählt Milowanow im Podcast. “Wenn eine Stromleitung repariert werden muss, könnte man den Boden drumherum mit den Walzen abfahren und Arbeitern damit die Reparaturen ermöglichen.”

Sprengfallen in Leichen und Puppen

Aber es gibt Orte, für die sich Traktoren mit Schaufeln und Walzen nicht eignen. Beim Rückzug aus den besetzten Gebieten war den russischen Truppen kein Ort zu makaber, um Ukrainerinnen und Ukrainer zu verletzten oder zu töten: In den vergangenen Monaten wurden Minen und selbst gebaute Sprengfallen unter anderem in Waschmaschinen und Feuerzeugen, in Vorgärten und Hinterhöfen, auf Spielplätzen und in Puppen und sogar in toten russischen Soldaten entdeckt.

In solchen Fällen haben ukrainische oder westliche Experten nur eine Wahl. Sie müssen sich Zentimeter um Zentimeter vortasten, jede einzelne Todesfalle in mühevoller Kleinstarbeit aufspüren und unschädlich machen. Eine Aufgabe, die Jahrzehnte in Anspruch nehmen könnte, mindestens: Einige Orte wie die Waldgebiete in den Vororten von Kiew wird man womöglich nie wieder betreten können, obwohl sie nur kurzzeitig von russischen Truppen besetzt waren. Aber wenn auch dort Minen zurückgelassen wurden, sind sie inzwischen von Bäumen, Pflanzen und Sträuchern überwachsen und womöglich nicht mehr zu erkennen.

Tymofij Milowanow erwartet deswegen für die Zukunft eine Ukraine mit mehreren Sicherheitsstufen: Es wird sichere Orte geben und welche, die einigermaßen sicher sind, sagt der KSE-Präsident im Podcast. Dort wird man bestimmte Wege und Pfade betreten, aber nicht verlassen dürfen. Es wird aber auch Gegenden geben, die abgesperrt und abgeriegelt werden, bis auch dafür eine gangbare Lösung gefunden wurde. Schaufeln, Walzen und gepanzerte Traktoren sind nicht genug.

“Wieder was gelernt”-Podcast

“Wieder was gelernt” ist ein Podcast für Neugierige: Warum wäre ein Waffenstillstand für Wladimir Putin vermutlich nur eine Pause? Warum fürchtet die NATO die Suwalki-Lücke? Wieso hat Russland wieder iPhones? Mit welchen kleinen Verhaltensänderungen kann man 15 Prozent Energie sparen? Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein bisschen schlauer.

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