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Noch nie hat die Autogewerkschaft UAW die drei Branchengrößen der USA gleichzeitig bestreikt – bis jetzt. Präsident Biden stellt sich hinter die Arbeiter: Ford, General Motors und Stellaris müssten ihre Rekordprofite teilen. Ein langer Arbeitskampf könnte fatal werden.
Es brodelt unter Arbeitern in der US-Wirtschaft. Nach Jahrzehnten niedriger Streikraten und Gewerkschaften, die immer weniger Beschäftigte vertreten, könnte 2023 als wichtiges Jahr des Arbeitskampfes in die Geschichte eingehen. In der Autobranche etwa ist bei Ford, General Motors und Stellaris der Tarifvertrag mit der Gewerkschaft United Auto Workers, UAW, in der Nacht von Donnerstag auf Freitag ausgelaufen. Verhandlungen über einen neuen waren erfolglos geblieben. Nun will die Gewerkschaft mit 12.700 Streikenden in drei US-Bundesstaaten höhere Bezahlung und Arbeitsbedingungen für fast 143.000 Arbeiter erzwingen.
Alle drei großen Produzenten der US-Marken im zeitgleichen Arbeitskampf der UAW, das hat es noch nie gegeben. Die Streiks seien “gezielt und begrenzt”, sagte UAW-Chef Shawn Fain, sie konzentrieren sich derzeit auf die profitabelsten Fertigungen in Michigan, Missouri und Ohio. Weitet er sich auf die komplette Produktion aus, könnten die Folgen die Bundesstaaten in die Rezession treiben und sogar Auswirkungen auf das ganze Land haben. Das weiß auch US-Präsident Joe Biden, der sich auf die Seite der Gewerkschaft gestellt hat. Je nachdem, wie sich die Lage in der Motor City Detroit und anderswo entwickelt, wird dies seine Wiederwahlchancen 2024 beeinflussen.
Bei einer kompletten Niederlegung würden in den USA insgesamt fast 460.000 Arbeiter das Jahr 2023 zu einem der größten Streikwellen in den vergangenen vier Jahrzehnten machen. Schon zehn ausfallende Produktionstage der drei Autohersteller würden einen Verlust von 5,6 Milliarden Dollar für die Unternehmen bedeuten. Dauert ein kompletter Streik bis Ende des Jahres an, könnte er die gesamte US-Wirtschaft “an den Rand der Rezession” drängen, wird ein Analyst in der “New York Times” zitiert. Für Biden wäre das fatal. Die Wirtschaft ist eines der wichtigsten Themen im anstehenden Wahlkampf.
UAW-Chef Shawn Fain (Mitte) telefonierte vor der Urabstimmung über einen Streik mit Biden.
(Foto: AP)
Der Demokrat ist ein ausgesprochener Befürworter organisierter Arbeiter und nennt sich selbst den “gewerkschaftsfreundlichsten Präsidenten jemals”. Biden fordert immer wieder höhere Löhne für die Mittelschicht und macht zugleich Druck auf die Autoindustrie, den Umbau zur grünen Mobilität schneller voranzutreiben. Die heimische Herstellung ist vor allem in Michigan angesiedelt, ein Bundesstaat, den Biden für eine Wiederwahl fast sicher gewinnen muss. Als 2019 die 48.000 Arbeiter bei General Motors für sechs Wochen in mehr als 50 Fabriken die Arbeit niederlegten, schrumpfte Michigans Wirtschaft für ein Quartal.
Bidenomics gegen Maganomics
Die Demokraten nennen ihre Mischung aus Subventionen, Wirtschaftsumbau und Stärkung der Mittelschicht durch bessere Einkommensverteilung “Bidenomics”. Kurz bevor UAW in Streik trat, hatte Biden in einer Rede zum Staatshaushalt die deutlich anderen Pläne der Republikaner attackiert, sollten diese 2024 gewinnen: “MAGAnomics ist extremer als alles, was Amerika je gesehen hat”, sagte er in Anlehnung an Donald Trumps Wahlspruch “Make America Great Again”. Trump ist der favorisierte Kandidat der Republikaner für die Wahl im kommenden Jahr.
Im Juni hatten die Republikaner ihre Vorstellung vom Haushalt mitgeteilt, die ein erneuter Aufguss von trickle down wäre: Steuern für Wohlhabende und Konzerne sollten demnach gesenkt, Sozialprogramme gekürzt und die Preisobergrenzen für Insulin und andere Medikamente wieder aufgehoben werden. So sollen Investitionen angekurbelt werden. “Das hat noch nie funktioniert, aber jetzt machen sie es einfach noch schlimmer”, polterte Biden. Landesweit ist die Mehrheit jedoch auch mit seiner Wirtschaftspolitik unzufrieden, knapp unter 60 Prozent laut Umfrage des “Wall Street Journal”. Bei der Inflationsbekämpfung sind es demnach sogar etwas mehr als 60 Prozent.
Dabei ist die Wirtschaft nach Zahlen in keinem schlechten Zustand und eher auf dem Wege der Besserung. Die Arbeitslosigkeit liegt seit eineinhalb Jahren bei etwa 3,5 Prozent. Nach Verlusten der vergangenen Jahre steigen die Reallöhne aktuell wieder, die Inflation ist wesentlich niedriger als 2022. Banken und Wirtschaftsinstitute korrigieren ihre Ausblicke nach oben, erwarten nun Wachstum statt Rezession für das Gesamtjahr 2023. Doch die US-Amerikaner trauen dem Aufschwung (noch) nicht. Hohe Benzin- und Immobilienpreise könnten die Gründe sein.
Die aktuellen Arbeitskämpfe sind Aufsehen erregend, aber harmlos im Vergleich zur Nachkriegszeit. In den zwölf Monaten nach Ende des Zweiten Weltkriegs streikten in den USA fast 5 Millionen Menschen, das waren 10 Prozent der verfügbaren Arbeitskräfte; in der Fleisch- und Autoindustrie, der Filmbranche, Stahlarbeiter und Kohlekumpel. Durch die 1950er Jahre hindurch streikten im Schnitt 1,5 Millionen Arbeiter jährlich. Die Mittelklasse wuchs in diesen Boomjahren durch permanente Einkommenszuwächse.
Doch der Anteil organisierter Arbeiter fiel nach 1960 unter die 30-Prozent-Marke und ist seither ständig geringer geworden. Derzeit sind es 6 Prozent. Zugleich hat der Einkommensanteil der oberen zehn Prozent in den USA fast kontinuierlich zugenommen. Wenn Biden davon spricht, für Gewerkschaften und damit für eine Stärkung der Mittelschicht zu sein, spricht er aus dieser historischen Erfahrung.
Filmbranche streikt noch immer
UAW fordert für seine Arbeiter 36 Prozent mehr Lohn in den kommenden vier Jahren. Die Unternehmen bieten die Hälfte davon und argumentieren, sie bräuchten Geld für den Umbau der Fabriken zur Elektroautofertigung. General Motors Chefin Mary Barra zeigte sich “frustriert und enttäuscht”, das Angebot des Unternehmens sei “historisch” gut. Der Streik könne aber aus ihrer Sicht “sehr schnell” beigelegt werden.
An anderer Stelle scheiterte dies: Die Filmbranche in Hollywood streikt bereits seit mehr als vier Monaten mit Zehntausenden Beschäftigten, sowohl Autoren als auch Schauspieler, das erste Mal seit 1960 gemeinsam. Die Gewerkschaft des Logistikdienstleisters UPS drohte ebenfalls mit Arbeitsniederlegung der 300.000 Mitglieder. Sie hätten Lieferketten sprengen und so im ganzen Land Produktionskosten und Inflation in die Höhe treiben können. Die Arbeitervertretung setzte sich vorher durch, Löhne und Arbeitssicherheit wurden erhöht. Dazu kommt nun United Auto Workers, die große Gewerkschaft der Autoindustrie.
In der Branchenkrise der Großen Rezession, bei der General Motors 2009 in Insolvenz ging, hatten die Beschäftigten signifikante Einschnitte hingenommen. Inzwischen vermelden die Hersteller jedoch Rekordgewinne: Ford 2,4 Milliarden Dollar in der ersten Jahreshälfte, General Motors 5 Milliarden Dollar, und Stellantis – die unter anderen Chrysler, Jeep und Dodge herstellen – 11,6 Milliarden Dollar. Biden sagte, er verstehe den Frust der Arbeiter. Der Präsident forderte deshalb von den Unternehmen, sie müssten ihr Angebot verbessern: “Rekordgewinne, die sie haben, sollten durch Rekordverträge für UAW geteilt werden.”