Der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert hat mit Nachdruck für ein soziales Pflichtjahr geworben. Er empfinde es als “ärgerlich, dass es in der politischen Klasse eine Reihe von Leuten gibt, die den Diskurs verweigern mit der Behauptung, ein solcher Dienst sei prinzipiell nicht mit einer liberalen Gesellschaft vereinbar”, sagte Lammert im Interview mit ntv.de. Die Auffassung, ein verpflichtendes Dienstjahr passe nicht zu einer liberalen Gesellschaft, wies Lammert zurück. “Wer nur noch sein eigenes Ding machen will und glaubt, außer für sich selbst für nichts zuständig zu sein, der darf sich über die Erosionstendenzen in der Gesellschaft nicht beklagen.”
Mit Blick auf das Erstarken populistischer Parteien sagte Lammert, dies mache ihm “erhebliche Sorge”. Eine Erklärung dafür sei, dass moderne Gesellschaften immer vielfältiger und komplexer geworden seien. “Angesichts dieser Komplexität haben einfache Antworten auf komplizierte Fragen eine hohe Attraktivität. Das verschafft dem Populismus einen Wettbewerbsvorteil, von dem die Populisten ja auch gnadenlos Gebrauch machen.” Einfache Antworten auf komplexe Fragen seien jedoch “regelmäßig falsch”.
ntv.de: Die junge Generation wird mal als Hoffnungsträger dargestellt – zumindest vor ein paar Jahren war das mit Blick auf Fridays for Future so -, mal als fauler Haufen. Wie erleben Sie die Jugend von heute?
Norbert Lammert: Von diesen beiden Vereinfachungen – Hoffnungsträger oder fauler Haufen – ist die erste sicher näher an der Realität als die zweite. Schon durch die Altersabfolge sind Mitglieder der jungen Generation Hoffnungsträger. Ob sie sich dieser Rolle bewusst sind, ist eine andere Frage. Aber sie werden ganz sicher auf die Zukunft dieses Landes länger und wohl auch nachhaltiger Einfluss haben als die ältere Generation. Das Klischee von einer faulen oder auch nur bequemen Jugend teile ich nicht. Ich empfinde die jetzige junge Generation auch nicht als weniger politisch als etwa meine eigene Jugendzeit – die ja unter dem Verdacht steht, die politischste Generation aller Zeiten gewesen zu sein. Ich gehöre rechnerisch zur Generation der Achtundsechziger. Erst kürzlich sind uns bei einem Klassentreffen bei gemeinsamem Nachdenken ganze anderthalb Leute in unserem Abiturjahrgang eingefallen, die seinerzeit politisch engagiert waren. Der eine war ich.
Und das nicht als klassischer Achtundsechziger.
Dass es heute ein geringeres Maß an politischem Interesse oder eine geringere Bereitschaft zum politischen Engagement gäbe als vor fünfzig Jahren, kann ich jedenfalls nicht bestätigen, auch wenn sich Beteiligungsformen verändert haben, wie eine aktuelle Umfrage von uns zum Generationen-Thema zeigt. Es gibt allerdings einen Unterschied, und das ist die stärkere monothematische Orientierung. Wer sich vor fünfzig Jahren für Politik interessierte, der interessierte sich in der Regel für innen- und außenpolitische Themen, für Wirtschaftsfragen und sozialpolitische Themen. Die Fixierung auf ein einzelnes Anliegen war selten. Heute ist ein politisches Engagement typischerweise mit einem besonderen Anliegen verbunden, etwa dem Kampf gegen den Klimawandel, der Friedenssicherung oder der Unterstützung der Ukraine. Bleiben wir mal bei dem Beispiel von Fridays for Future: Ein solches Engagement stellt die handelnde Politik vor die Herausforderung, dieses Anliegen einzusortieren in den Kontext anderer Anliegen, die ebenfalls ihre Berechtigung haben, aber von den jeweiligen Aktivisten nicht oder – wenn überhaupt – nur als nachrangig wahrgenommen werden.
Gelingt der Politik das gut genug?
Gut genug gelingt es erkennbar nicht. Würde es gut gelingen, wäre das Vertrauen in das Funktionieren des politischen Systems nicht so offenkundig lädiert.
Ein Streitpunkt zwischen den Generationen ist die Einführung eines sozialen Pflichtdienstes. Passt ein solcher Dienst überhaupt zu einer liberalen Gesellschaft?
Ich teile jedenfalls nicht den Einwand, dass er prinzipiell nicht zu einer liberalen Gesellschaft passe, wie ich überhaupt die Vorstellung schwierig finde, dass eine liberal verfasste Gesellschaft ausschließlich individuelle Ansprüche begründen müsse, nicht aber auch Verpflichtungen einfordern dürfe.
Umfragen zeigen, dass Ältere eher dafür, Jüngere – die ein solcher Pflichtdienst betreffen würde – dagegen sind.
Von der Frage eines sozialen Dienstjahres ist keineswegs notwendigerweise nur die junge Generation betroffen. Der Grundgedanke ist, ob es nicht aus vielen grundsätzlichen und praktischen Erwägungen sinnvoll sein könnte, zu irgendeinem Zeitpunkt der Biografie einen Teil der Lebenszeit für die gemeinsame Bearbeitung eines wichtigen gesamtgesellschaftlichen Anliegens zur Verfügung zu stellen. Das wird in der Regel eher jüngere Leute als Menschen mitten im Berufsleben oder später betreffen. Aber Fragen der konkreten Ausgestaltung eines solchen Dienstes, von der Dauer über die Bedingungen bis zu den Einsatzgebieten, sind allesamt Gegenstand eines öffentlichen Diskurses. Ich gehöre zu denjenigen, die diesen Diskurs nicht nur für erlaubt, sondern für notwendig halten. Deswegen finde ich es ein bisschen ärgerlich, dass es in der politischen Klasse eine Reihe von Leuten gibt, die den Diskurs verweigern mit der Behauptung, ein solcher Dienst sei prinzipiell nicht mit einer liberalen Gesellschaft vereinbar. Und von den gleichen Leuten wird dann häufig beklagt, dass eine liberale Gesellschaft nicht an Konsistenz gewinnt, wenn jeder nur sein eigenes Ding macht.
Wie könnte ein solcher Pflichtdienst konkret umgesetzt werden, ohne dass es wirkt, als sollte sozialer Zusammenhalt erzwungen werden?
Es ist noch gar nicht so lange her, dass wir in Deutschland eine allgemeine Wehrpflicht hatten. Es gab die Möglichkeit eines Ersatzdienstes, wenn man aus plausiblen Gründen den Dienst an der Waffe nicht leisten wollte. Ich bin sicher: Wenn die Diskussion über die Zeitgemäßheit und Praktikabilität der Wehrpflicht nicht vor zehn Jahren stattgefunden hätte, sondern heute stattfinden würde, hätte sie ein anderes Ergebnis als damals. Im Kontext eines nicht theoretisch denkbaren, sondern täglich stattfindenden Krieges an der Grenze Europas zu Russland wäre die Wahrnehmung eine ganz andere als vor zehn Jahren.
Die Wehrpflicht ist eine denkbare Ausgestaltung eines sozialen Dienstjahres, aber nicht die einzig mögliche. Heute würde man, wenn man einen solchen Dienst gesamtgesellschaftlich organisieren wollte, neben der Bundeswehr auch die Polizei hinzunehmen, soziale Dienste im weitesten Sinne, den Sportbereich, den Kulturbereich, den Umweltbereich – an sinnvollen Einsatzfeldern im Inland wie im Ausland ist ja erkennbar kein Mangel.
Ist sozialer Zusammenhalt überhaupt möglich in Zeiten, wo verschiedene soziale Gruppen einfordern, stärker gehört zu werden als früher?
Mit diesem Thema beschäftigen sich seit geraumer Zeit nicht zufällig hochrenommierte Soziologen. Andreas Reckwitz hat vor inzwischen sechs Jahren seinen Bestseller über “Die Gesellschaft der Singularitäten” geschrieben. Francis Fukuyama, der vor mehr als 30 Jahren mit seinem Buch über “Das Ende der Geschichte” aufgefallen war, setzt sich in seinen neueren Publikationen auch mit dieser Identitätsproblematik auseinander. Beide kommen zu dem Ergebnis, dass die zunehmende Fixierung auf das Besondere den Zusammenhalt einer Gesellschaft eher erschwert als erleichtert. Das ist gewissermaßen die anspruchsvollere Formulierung zu meiner vorhin gemachten Bemerkung: Wer nur noch sein eigenes Ding machen will und glaubt, außer für sich selbst für nichts zuständig zu sein, der darf sich über die Erosionstendenzen in der Gesellschaft nicht beklagen.
Sind es die Minderheiten, die Sichtbarkeit einfordern, die an diesen Erosionstendenzen schuld sind, oder sind es die Teile der Mehrheitsgesellschaft, die keine Lust haben, ihre Perspektive zu wechseln?
Am uninteressanten an diesem wichtigen Thema finde ich die Schuldfrage. Sie hilft nicht weiter. Die eigentliche Herausforderung jeder liberalen Gesellschaft besteht darin, einen möglichst breiten, möglichst wenig limitierten Entfaltungsspielraum für individuelle Interessen, Begabungen, Anlagen, Auffassungen und Meinungen zu bieten und gleichzeitig den Zusammenhalt einer Gesellschaft zu wahren. Aktuell nehme ich eine Konjunktur der Fixierung aufs Besondere wahr. Wenn aber in einer Gesellschaft nur noch das Besondere thematisiert wird und das Allgemeine nicht, dann befördern wir diese Erosionstendenzen, statt sie zu begrenzen.
Gibt es nicht auch eine Konjunktur der Abwehr des Besonderen?
Meine Wahrnehmung ist, dass die Mehrheit der Bevölkerung eher als nervig empfindet, was eine intellektuelle Elite für besonders förderungswürdig erklärt, nämlich die jeweilige Identität, die deswegen auch in einer spezifischen Ansprache zum Ausdruck kommen müsse – Stichwort Gender-Sprache. An dieser Stelle gibt es eine auffällige Diskrepanz zwischen dem Erziehungsehrgeiz von Minderheiten und dem Veränderungsbedarf von Mehrheiten. Wobei es wiederum zu den Vorzügen einer liberalen Gesellschaft gehört, dass so etwas nicht mit der Autorität staatlicher Institutionen entschieden wird, sondern sich in der einen oder anderen Weise auswächst. Da bin ich mal sehr gespannt, wie sich diese Art von Diskussionslage weiterentwickelt.
Wie erleben Sie es persönlich, dass sich um Sie herum soziale Maßstäbe und Werte verändern? Vor sechs Jahren haben Sie gegen die Ehe für alle gestimmt, deren Einführung aus heutiger Sicht ganz unspektakulär verlaufen ist. Würden Sie heute anders entscheiden?
Solche Fragen sind immer hypothetisch. Richtig ist, dass es in kaum einem anderen Gesellschaftsbereich eine so deutliche Veränderung unseres Verständnisses von Institutionen und Beziehungen gegeben hat wie im Bereich von Familie, Ehe und Partnerschaften. Ich sage häufig, wenn ich über die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland spreche: Konrad Adenauer und die Damen und Herren des Parlamentarischen Rates würden sich sehr wundern, was drei Generationen später aus ihrem damals im Grundgesetz verankerten Ehe- und Familienverständnis geworden ist. Da sieht man, wie es eben auch und gerade in einer liberal verfassten Gesellschaft Veränderungsprozesse gibt, die keineswegs staatlich gestoppt werden, sondern sich irgendwann in veränderten gesetzlichen Regelungen niederschlagen. Ich nehme eher mit Amüsement zur Kenntnis, dass manchmal ein und dieselben Institutionen, die kurz zuvor noch als völlig überholt abgelehnt wurden, innerhalb kurzer Zeit zum einzig akzeptablen Standard zukünftiger Regelung erhoben werden. Die größten Befürworter der gesetzlichen Ehe für alle waren zuvor die prominentesten Vertreter der These, die Institution Ehe sei ein Anachronismus. Das war einer der Hintergründe für meine damalige Entscheidung.
Ist das Tempo der gesellschaftlichen Veränderung der zentrale Nährboden, auf dem Populismus wächst?
Jedenfalls begünstigt es Populismus. Es ist kein Zufall, dass wir Populismus nicht als exklusiven Vorgang in Deutschland haben, sondern dass geradezu ausnahmslos alle liberal verfassten Gesellschaften mit ausgeprägt populistischen Gruppierungen zu tun haben. Eine Erklärung dafür ist, dass moderne Gesellschaften immer vielfältiger, immer diverser, immer komplexer geworden sind. Angesichts dieser Komplexität haben einfache Antworten auf komplizierte Fragen eine hohe Attraktivität. Das verschafft dem Populismus einen Wettbewerbsvorteil, von dem die Populisten ja auch gnadenlos Gebrauch machen. Ob es um Migration geht, um soziale Ungleichheit oder um Krieg und Frieden: Für jede komplizierte Frage hat ein Populist eine einfache Antwort.
Wie viel Sorge macht Ihnen das?
Es macht mir erhebliche Sorge, weil sich nicht übersehen lässt, dass sehr viele sich auf diese Vereinfachung komplizierter Sachverhalte allzu gerne einlassen. Vor inzwischen mehr als einhundert Jahren sagte George Bernard Shaw: “Für jede komplexe Frage gibt es eine einfache Antwort. Und die ist regelmäßig falsch.” In der Faszination des ersten Satzes liegt eine wesentliche Erklärung für die Popularität von Populisten. Und in der Einsicht in den zweiten Satz liegt der Kern eines vitalen Demokratieverständnisses.
Eine weitere Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung hat gerade gezeigt, dass die Polarisierung in Deutschland vor allem zwischen zwei Polen verläuft: der Wählerschaft der Grünen einerseits und der Wählerschaft der AfD andererseits. Hat CDU-Chef Merz recht, wenn er sagt, die Grünen seien der Hauptgegner der Union?
Er hat ja selbst präzisiert: Innerhalb der Bundesregierung seien die Grünen für uns der Hauptreibungspunkt, der Hauptgegner. Dass wir zu den Grünen wie zu den anderen demokratischen Parteien in keinem feindseligen Verhältnis stehen, sondern in einem Wettbewerbsverhältnis, wird ja auch durch die Koalitionsbildung bestätigt: In bedeutenden, großen Bundesländern bilden Union und Grüne gemeinsam Landesregierungen. Die klare Kante verläuft zwischen den Parteien des demokratischen Spektrums und den rechtsextremen und rechtspopulistischen Herausforderungen.
Wie gefährdet ist die Freiheit, nicht nur in Deutschland, im Westen generell?
Da kann ich mir und Ihnen mit einem zweiten Zitat aushelfen. In seiner Abschiedsrede in Chicago hat Barack Obama kurz vor dem Wechsel der Amtsgeschäfte an seinen legendären Nachfolger gesagt: “Die Demokratie ist immer dann gefährdet, wenn wir anfangen, sie für selbstverständlich zu halten.” Das ist präzise unser Problem. Faktisch halten wir die Demokratie in Deutschland und in Europa für eine beinahe naturgesetzliche Tatsache. Auch diejenigen, die mit mehr oder weniger aktuellen Frustrationen ihr Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen erklären, wollen bei Nachfrage ja nicht ein nichtdemokratisches System. Sie wollen eine besser funktionierende Demokratie. Insofern muss man solche Herausforderungen schon ernst nehmen. Demokratien stehen nicht unter Denkmalschutz. Man muss aber gleichzeitig wissen, dass der Kampf gegen Gegner der Demokratie nur mit rechtsstaatlichen Mitteln geführt werden darf.
In einigen europäischen Ländern sind rechtspopulistische Parteien an der Regierung direkt oder indirekt beteiligt, etwa in Schweden, Finnland und Italien. Ist Abgrenzung oder Einbinden das bessere Rezept gegen Rechtspopulisten?
Mit Blick auf Deutschland und seine besondere Geschichte muss es eine unmissverständliche Abgrenzung geben.
Mit Norbert Lammert sprach Hubertus Volmer