Fast wäre Prinz Bertie bloß als unzüchtiger Thronfolger und Schöpfer des Smokings in die englische Geschichte eingegangen. Doch 1901 kam es anders und Albert Eduard wurde als Edward VII. noch König. Sein Vermächtnis ist im “Instagram Age” hochaktuell.
Mehr als ein halbes Jahrhundert musste Albert Eduard auf den englischen Thron warten, den er schließlich 1901 für seine letzten neun Lebensjahre bestieg. Als am Ende sein Herz versagte und er im Beisein seiner Ehefrau Alexandra und seiner letzten offiziellen Geliebten Alice Keppel umfiel, konnte er auf ein Leben voller Extravaganz zurückblicken. In 68 Jahren hatte er nichts ausgelassen, was die aufkommende Moderne reichen und hungrigen Menschen wie ihm längst ermöglichte: Bordelle mit elektrischem Licht, Jachten mit Motoren und eiskalter Champagner an jedem Ort der Welt.
Alice Keppel – eine Urgroßmutter von Camilla.
(Foto: IMAGO/Heritage Images)
Spitznamen wie “Playboy Prince” oder “The Caresser” (“Der Liebkoser”), für die Bertie kräftig gefeiert und gefummelt hatte, waren von der gleichzeitig aufkommenden Massenpresse verbreitet worden. Nach einem Kommentar der Londoner “Times” von 1890 habe der Prince of Wales kein Recht auf ein Privatleben, da er “die sichtbare Verkörperung des monarchischen Prinzips” sei. “Dirty Bertie” musste akzeptieren, dass er sich unter den neuen Bedingungen nicht mehr verstecken konnte wie seine Vorfahren. Und das Publikum musste damit leben, was sie sahen.

Edward – Lebemann mit Zigarre.
(Foto: imago stock&people)
Edward VII. – wie er sich als König nannte – war zeitlebens Kettenraucher: mit einer Zigarre zum Aufstehen und mehreren Zigaretten vor dem Frühstück. Er war Vielfraß: mit bis zu 12 Gängen zur Mittagszeit. Er war Jäger von Tieren und Frauen, also ein Großwild- und Schürzenjäger, mit einer Bilanz von etwas weniger erlegten Elefanten als Damen.
Ein Schlachtschiff mit Sperma fluten
Im 2007 erschienenen Buch “Royal Mistresses and Bastards” des britischen Genealogen Anthony J. Camp kann man nachlesen, dass Edward außerhalb seiner Ehe mit mindestens 50 Frauen geschlechtlich verkehrte. Mit vielen nur kurzzeitig, mit manchen gleichzeitig. Und ein paar Auserwählten auch für längere Zeit, wie etwa mit Alice Keppel – einer Urgroßmutter der britischen Königsgemahlin Camilla. Oder einer gewisse Jennie, der Mutter von Winston Churchill. Oder mit Lillie Langtry, die sich als Schauspielerin versuchte, aber vor allem als erste offizielle Geliebte des Prinzen bekannt war, sogar bei Hofe, weil eine Scheidung der noch viel größere Skandal gewesen wäre.

Lilly Langtry – hier als Cleopatra.
(Foto: imago/United Archives International)
Langtrys Prominenz machte sie zur ersten Celebrity im Königreich. Sie ließ Millionen Pinup-Fotos von sich verkaufen und machte Werbung für Seife. Angesichts seiner großzügigen Geschenke, zu denen auch ein Haus in London zählte, soll der Prinz bemerkt haben: “In dich ist so viel geflossen, dass man davon ein Kriegsschiff bauen könnte.” Lillie Langtry entgegnete: “Von dir ist so viel in mich geflossen, dass das Kriegsschiff darin schwimmen könnte.”
Nichts hatte Königin Victoria, Berties strenge Mutter, mehr gefürchtet als eine Wiederholung der Dekadenz ihrer hannoveranischen Ahnen wie des Onkels und Vorvorgängers Wilhelm IV., dem Camp zehn uneheliche Kinder attestiert. Obwohl es im Fall von Bertie – naturgemäß – dieselben Gerüchte gab, kann Camp keine “Bertie Bastards” bestätigen. Sein sexueller Habitus stellte trotzdem alles in den Schatten, was über die Triebhaftigkeit seiner Vor- und Nachfahren bekannt ist – einschließlich Prinz Andrew, der heute mit dem öffentlichen Spitznamen “Randy Andy” lebt.
Ein bizarrer Sexstuhl fürs Edelbordell

Karikaturen über Edward gibt es Hunderte.
(Foto: imago images/KHARBINE-TAPABOR)
Die Unzucht des Sohnes hatte sogar zum ungeheuren Vorwurf der Königin geführt, seine Eskapaden hätten seinen Vater – den Deutschen Albert von Sachsen-Coburg und Gotha – dermaßen mitgenommen, dass er über den Kummer mit 42 Jahren verstorben sei. Obwohl das medizinischer Unsinn ist (Albert war entweder Typhus oder Magenkrebs zum Opfer gefallen), wurde Bertie danach nicht wie ein Thronfolger, sondern wie ein Schädling behandelt und von Staatsgeschäften ferngehalten. Das wiederum spornte den Stammhalter nur noch mehr an, seinen Vergnügungen nachzugehen – und das immer exzessiver, effizienter und einfallsreicher. Nicht ohne Grund klagte Victoria über genau diese drei Es – also über Berties konsequente wie rücksichtslose Methoden, den Genuss zum höchsten Lebensprinzip zu machen.

Queen Voctoria “was not amused” über die Eskapaden ihres Sohnes.
(Foto: IMAGO/Cola Images)
Und wieder machte sie es nur schlimmer, als sie ihm befahl, erst gar nicht auf die Idee zu kommen, einer Einladung des französischen Kaisers nachzukommen und sich über Nacht in dessen Schlössern aufzuhalten. Viel zu groß wäre das Gerede danach und womöglich auch die Verpflichtung zu einer Gegeneinladung, die Schloss Windsor noch in ein “Bed and Breakfast” verwandeln könnte. “Reise unbedingt inkognito, nimm dir ein Hotel in Paris und verhalt dich diskret!”, schrieb Victoria 1864. Da mag Bertie sich gedacht haben: As you wish, Mama! Belegt ist, dass er mit dem Decknamen “Baron Renfrew” loszog und fortan praktisch jede Auslandsreise – egal wohin sie führte – um mindestens einen Zwischenstopp in Paris erweiterte.
Irgendwann war Eduards Liebe für die französische Hauptstadt dermaßen ausgeprägt, dass sich das Edelbordell “Le Chabanais” nach dem maximal betuchten Stammgast richtete – oder besser gesagt: einrichtete. Autor Stephen Clarke erzählt in seinem 2014 erschienenen Buch “Dirty Bertie – an English King made in France”, dass sich Eduard am liebsten im indisch gestalteten “Hindu Room” verlustierte. 1890 gab er dafür ein Möbelstück in Auftrag, das als “Love Chair” in die Sexgeschichte eingegangen ist. Der bizarre Stuhl hatte zwei mit Brokatstoff bezogene Flächen, goldene Haltegriffe und vier Stützen für Füße. Als ein Nachfahre des Herstellers Soubrier das Original 2018 für 53.000 britische Pfund ersteigerte, wurde im Internet viel über die Nutzungsvarianten (vor allem zu dritt) spekuliert. Fest steht: Das Objekt war eine für viktorianische Maßstäbe sagenhaft frivole Erfindung.
Erfinder von trockenem Champagner und Smoking

Alexandra von Dänemark hatte sich ihre Ehe sicher anders vorgestellt.
(Foto: IMAGO/Gemini Collection)
Eine andere Vorliebe des Prinzen, die ebenfalls in Frankreich eine Produktinnovation förderte, kommt betuchten Genießern noch heute zugute: der trockene Champagner! In der Kellerei der Marke Ayala, die zu Bollinger gehört, ist man selbst nach 140 Jahren noch ganz benommen von dem, was auch am Eingang im Örtchen Aÿ steht: Dass es Prinz Albert Eduard war, der verlangte, den damals üblichen Zuckergehalt von mehr als 120 Gramm pro Liter auf 20 oder weniger zu senken – der heutige Standard. 1865 besaß der Champagner von Ayala die von Edward in London bestellte Trockenheit und stieg zum ersten Hoflieferanten auf.
Für die Träger konservativer Mode ist Prinz Bertie unterdessen eine Stilikone geblieben: Auf einem Fest soll ihm der Frack zu lang gewesen sein, also schnitt er ihn ab. Während der Jagd stand ihm der Matsch bis zu den Waden, also krempelte er die Hose hoch. Und als ihn auch der Bund zwickte, bestellte er sich eine Hose mit Falten. Er gilt somit als Schöpfer des Smokings, des Hosenumschlags und der Bundfalte. Und wer wie Bertie den untersten Knopf der Weste offen lässt, gilt als besonders stilsicher.

Jennie Churchill mit ihren Söhnen, rechts Winston.
(Foto: imago images/Classic Vision)
Doch Albert Eduard war noch viel mehr als die Personifizierung eines Luxustigers. Er war ein Übergangsmensch zwischen früher und morgen, noch ganz im 19. und schon ziemlich sicher im 20. Jahrhundert. Einerseits ein Abkömmling höchster Macht und Selbstherrlichkeit – ohne das peinliche Gefühl von Rechenschaft und Sichtbarkeit. Andererseits ein Vorläufer der Royals von heute, die sich mit dem Volk und seinen Vertretern arrangieren müssen und konstitutionell wie medial eingebunden sind.
Edward VII. war ein Dandy und ein Snob, mit zu vielen Affären, zu vielen Gelagen und zu hohen Schulden, der sogar mit einem leichten deutschen Akzent sprach. Trotzdem war sein Volk mit ihm happy. Weil er es schließlich als König einlud, nach dem gedämpften viktorianischen Zeitalter zu feiern. Die “Edwardian Period” ist mit ihren verzierten Mahagonischränken und silbernen Accessoires ein Begriff geblieben.
Die Sehnsucht der Neureichen lebt
Bestimmt würde auch Charles III. gerne als Architekturpapst und Gartenliebhaber in die Kunstgeschichte eingehen. Doch der heutige König, der sogar 74 Jahre auf den Thron warten musste, weiß, dass sein Leben vergleichsweise beschaulich verlaufen ist und er niemals zum Halbgott aufsteigen wird: des “Jet-Set”, der “Nobs”, der “High-Society”, der “Hautevolee” – oder wie man sie nennen mag.
Wahrscheinlich erlebte Edward einfach bessere Zeiten für einen ewigen Thronfolger. Er war das adelige Vorbild einer aufstrebenden Freizeitkaste, der “Leisure Class”, die der US-Amerikaner Thorstein Veblen zum ersten Mal 1899 beschrieben hatte: “Sie verbringen ihre Zeit unproduktiv, weil sie es sich leisten können, produktive Arbeit als wertlos zu betrachten. Sie können es sich leisten, ein Leben voller Eitelkeiten zu führen.” Edward lebte die Sehnsüchte dieser Neureichen und zugleich die romantische Vorstellung des europäischen Sturms und Drang – als ein Lebemann und ein Taugenichts. Wer sich alleine bei Instagram umschaut, erkennt rasch, dass dieser Mindset als Mix aus Bedürfnissen und Anspruch wieder zeitgemäß ist. Edward hat ihn für unsere Zeit vorgelebt – und hinterlassen.