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Nevin Aladağs Soundgärten verleiten zum Spielen

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Spacige Klangskulpturen, endlose Teppich-Verflechtungen, bunte Basketbälle oder schwebende Lichtskulpturen: Nevin Aladağ macht coole Kunst für alle, draußen und kostenlos. Zu sehen und zu hören und zu fühlen in Baden-Baden, Bonn oder Zwönitz. 

Das runde Objekt steht mitten im Kurpark. Neugierige klopfen, trommeln, klatschen mit den Händen darauf herum. Sie pusten in kleine, abstehende Röhren. Verheißungsvoll schimmert es in der Sonne, lockt alle an. Schiefe Töne mischen sich mit sphärischen Klängen. Zwischen den Belle-Époque-Säulen des Kurhauses schweben bunte Lampen. Irgendwo ist ein schier endloser Teppich ausgerollt. Was ist da los im sommerlichen Baden-Baden? Unter dem Slogan “Kunst findet Stadt” findet in der Bäderstadt mit herrlichen Arbeiten von Nevin Aladağ tatsächlich Kunst für alle statt.

Zusammenbringen, was so nie gedacht wurde. In Baden-Baden verbindet Nevin Aladağ Skulptur und Klang.

(Foto: Valentin Behringer)

Die Skulptur, die dem Publikum neue Klangwelten eröffnet, heißt “Public Resonator”. Zum ersten Mal ist diese Plastik öffentlich bespielbar. Obwohl die Künstlerin sich über diese Gelegenheit gefreut hatte, war sie doch erschrocken, als sich zuallererst ein Schwarm spielender Kinder der Kugel bemächtigte. “Wir hatten gerade alles installiert, der Resonator war nagelneu, aufwändig in einer Metallwerkstatt produziert worden, und die Kinder hämmerten wie wild drauf herum”, erinnert sie sich beim Gespräch mit ntv.de in Berlin, wo sie lebt und arbeitet. Peu à peu merkten die Kids, dass sie Töne produzieren können, wenn sie sanfter sind. “Ich musste mich tatsächlich einen kurzen Moment daran gewöhnen, dass hier im Park jeder meinem Werk Töne entlocken darf. Ehrlich gesagt hatte ich das so nicht erwartet. Jetzt ist es ein tolles Gefühl, zu sehen, wie viele Menschen die Skulptur annehmen.”

Von hoppala bis sexy

Spielerisch interagieren generationsübergreifend Fremde und Bekannte, werden so Teil des Kunstwerks sowie einer eigenen Performance. Ganz gleich, ob musikaffin oder nicht – jede und jeder kann allein oder gemeinsam einen Dialog durch Musik erproben. Für Nevin Aladağ ist Musik eine verbindende Sprache im besten Sinne, jeder verstehe sie, glaubt sie, mit ihr lasse sich viel Gefühl erzeugen. Töne mit Bildhauerei zu kombinieren ist ihre eigene, besondere Herangehensweise und eines ihrer signifikanten Markenzeichen.

Neues Leben für Nylonstrümpfe: Nevin Aladağ in ihrem großzügigen Atelier in Berlin-Lichtenberg mit zwei "Color Floating"-Lichtskulpturen.

Neues Leben für Nylonstrümpfe: Nevin Aladağ in ihrem großzügigen Atelier in Berlin-Lichtenberg mit zwei “Color Floating”-Lichtskulpturen.

(Foto: Daniela Kohl)

Klangspuren im städtischen Raum tauchen auch in ihren Video-Arbeiten auf. Bei einer Performance-Reihe für die Kunstbiennale in Venedig klackerten Stilettos auf Kupferplatten. Die hängen inzwischen weltweit an Wänden in Museen, erzeugen Töne im Kopf und Emotionen von hoppala bis sexy. Auch ausrangierte Möbel werden zu Musikinstrumenten. Aladağs Werk funktioniert auch ohne Performance und energetisiert Raum und Publikum. Die Frage, die Aladağ interessiert: Wie klingt Skulptur? “Ich versuche von der Bildhauerei heranzugehen. Einerseits plane ich Resonanzräume mit ein, andererseits blende ich sie aus, um nah an der Form der Skulptur zu sein”, erklärt sie.

Wenn Nevin Aladağ spricht, schwingt gelegentlich ein Hauch Süddeutschland mit. 1972 im türkischen Van geboren, erlebte sie ihren ersten Geburtstag bereits in Stuttgart, wo sie auch aufwuchs. Zum Kunststudium ging sie nach München an die Akademie der Bildenden Künste. Ihre Familie hat kurdisch-türkische Wurzeln, der Vater war Lehrer in der Türkei, 1973 entschieden die Eltern auszuwandern. Musik war immer ein Teil der Familie. Sie und ihre vier Geschwister lernten Trompete, Gitarre, Violine, Klavier oder was auch immer für ein Instrument – allerdings habe sie nie besonders lange durchgehalten, räumt sie ein.

Klingende Möbel

Dafür hat Nevin Aladağ heute um so mehr Ausdauer und vor allem Spaß daran, sich auszudenken, welches Mobiliar zu welchem Musikinstrument werden könnte. Ihre bespielbaren Möbel sind die Vorläufer des Resonators. Aus auf Flohmärkten und Secondhandshops entdeckten Sesseln, Stühlen, Tischen, Lampen oder Garderobenständern schuf sie sogenannte Musikzimmer. Das erste entstand 2014 in einem ehemaligen Appartement in Istanbul, das zu einer Galerie umfunktioniert wurde.

"Social Fabrics" sind Wandreliefs aus Teppichen. Sie werden in vielen Museen gezeigt, aktuell auch im SCAD Museum of Art in Savannah, USA.

“Social Fabrics” sind Wandreliefs aus Teppichen. Sie werden in vielen Museen gezeigt, aktuell auch im SCAD Museum of Art in Savannah, USA.

(Foto: Daniela Kohl)

Das Gewohnte dreht Aladağ schlichtweg um, verschiebt tradierte Zuschreibungen. Was, wenn nicht die Menschen, sondern die sonst stummen Möbel eine Stimme haben? “Eigentlich naheliegend”, lacht sie, “jeder trommelt mal mit den Fingern auf der Tischplatte oder der Stuhllehne herum”. Seither bringen ihre Möbelstücke immer wieder museale Räume zum Schwingen. Auf der Athener Ausgabe der DOCUMENTA 2017 waren die Leute vielfach enttäuscht, dass sie nicht selbst an den zarten Saiten der Möbelstücke zupfen durften. In Baden-Baden gibt es dafür um so mehr experimentellen Sound für alle.

Neue Verbindungen sind ein weiterer roter Faden, der sich durch ihr Werk zieht. Bekannte Muster und Ornamente vernetzt sie überraschend anders. Die Bildhauerin hat ein ganzes Musterarchiv, auf das sie zurückgreifen kann. “Ich fotografiere viel”, sagt sie. Der eigene Blick hat sich mit der Erfindung der Handykamera noch mal geschärft. Freunde schicken ihr mittlerweile deren Fundstücke zu. Daraus entstehen später abstrakte Skulpturen aus Stahl, bunte Paravent-artige Objekte aus Keramik, die ihre Umgebung neu definieren. Der Sammler- und Recycling-Gedanke erstreckt sich auch auf ihre Teppicharbeiten. Stücke aus der ganzen Welt collagiert sie zu ihren begehrten Wandreliefs.

Irritierend anders

Mit diesem weichen, allen vertrauten Material hat sie nicht nur den Park in Baden-Baden bestückt, sondern auch das Dach der Bonner Bundeskunsthalle. Dabei geht es ihr um Verflechtungen. Basketballkörbe und Bälle, die mit Teppichen bespannt sind, laden ein, ihre Kunst spielend und miteinander zu erleben. Die Bälle wurden inzwischen so intensiv bespielt, dass sie in Teilen schon restauriert werden mussten, freut sich ihre Schöpferin.

Ihre Interventionen stoßen auch Irritationen an. In Bezug auf Aladağs Arbeiten werden gerne komplexe Themen wie Identität oder Migration zitiert. “Natürlich ist das bei mir naheliegend. Andererseits finde ich es schade, dass dieses große Thema aufgemacht wird und damit in gewisser Weise meine Arbeiten reduziert.” Dass sie einen Migrationshintergrund hat, wurde erst mit der Ausübung des Berufs zum Thema. “Bis dahin, während der Schulzeit und im Studium, war das für mich eher ein natürliches Vorhandensein.”

Ganz ohne Begriffe wie Herkunft, Wurzeln und Zugehörigkeit funktioniert ihr Werk dennoch nicht. “Der historische Background eines Objektes ist relevant, aber auf eine Art auch austauschbar”, sagt sie. Sie positioniert ihre Kunstwerke mit Leichtigkeit, hat beim Arbeiten ihr Publikum im Kopf. Die vielfältigen Themen schleichen sich dann ohne aufklärerische Tonalität ins Bewusstsein ihres Publikums.

Schwebende Farben. Die Idee zu ihren Lichtobjekten kam der Künstlerin durch einen Designklassiker des Dänen Poul Henningsen.

Schwebende Farben. Die Idee zu ihren Lichtobjekten kam der Künstlerin durch einen Designklassiker des Dänen Poul Henningsen.

(Foto: Daniela Schleich)

Ein Wort noch zu den wunderbar bunten Lampen: Die baumeln nicht nur am Baden-Badener Kurhaus. Sie sind auch ein Fragment des gerade entstehenden “Purple Path”, der ein Teil der Kulturhauptstadt Europas 2025 – Chemnitz – sein wird. Der Kunstparcours wächst langsam und soll in zwei Jahren 38 Dörfer und Städte der Region sowie internationale und lokale KünstlerInnen miteinander verbinden. Da blitzt er also wieder auf, der alles miteinander vernetzende Gedanke von Nevin Aladağs Kunstwerken. Wie kleine UFOs leuchtende Skulpturen schweben deswegen auch in Zwönitz über dem Austelteich. Für “Color Floating” umwickelt sie Metalllampen mit weichen und zugleich erstaunlich robusten, farbigen Nylonstrümpfen. Die stammen – natürlich – aus der Textilstadt Zwönitz und treffen dank der Künstlerin nun auf Historie, Licht und Natur.

“kunst findet stadt”, bis 3. September im Kurgarten, 76530 Baden-Baden
“Interactions” bis 15. Oktober, Helmut-Kohl-Allee 4, 53113 Bonn
Color Floating”, Am Austelpark 8, 08297 Zwönitz
Alle Informationen zum Purple Path
Die neue Videoarbeit “Jamming” läuft im Kulturhaus Schwartzsche Villa, Grunewaldstraße 55, 12165 Berlin – ab dem 8. September, Eintritt frei

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