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Natalia Goncharova: Morgen ist heute egal

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Eigentlich ist sie selbstständig, aber eigentlich sollte in der Ukraine auch Frieden herrschen. Im Krieg musste Natalia sich neu erfinden. Die Kunden waren weg, die Bomben schlugen vor ihrem Fenster ein. Ihr hilft am meisten, anderen zu helfen.

Morgens um sieben am Hauptbahnhof in Odessa. Das Gebäude ist unglaublich schön, neoklassizistisch, gekrönt von einer riesigen Kuppel und strahlend weiß. 1944 im Krieg zerstört, dann 1952 leicht modifiziert wieder aufgebaut. Ob es diesen Krieg übersteht? “Die Innenstadt von Odessa ist Ende Juli dieses Jahr angegriffen worden. Fast 50 Gebäude in der Altstadt, die UNESCO Weltkulturerbe ist, wurden getroffen”, sagt Natalia. Die Einschläge hat Natalia aus ihrem Fenster beobachten können. Warum flieht sie nicht? “Odessa ist meine Heimat, und hier kann ich Menschen helfen”, sagt sie.

Manchmal kann sie nur (ver)trösten.

(Foto: A. Tölke)

Genau darum sehen wir uns auch am Bahnhof. Be an Angel evakuiert diejenigen, die von der Front hierher geflüchtet sind und die nicht weiter wissen. Seit April 2022 stellt Natalia die Passagierlisten zusammen. Sie ist in Kontakt mit den Notunterkünften, und mittlerweile kursiert ihre Telefonnummer in allen möglichen Telegram- und WhatsApp-Foren. “Mich rufen Menschen mitten in der Nacht an”, erzählt sie. “Manchmal sogar noch aus Frontnähe, dann hört man im Hintergrund die Schüsse und Granateinschläge.” Sie würde gerne allen helfen. Aktuell gibt es eine Warteliste von 210 Personen, die nicht evakuiert werden können, weil es kaum noch Spenden gibt. “Für mich ist das schrecklich, weil ich nur vertrösten kann. Ich kann den Menschen nicht sagen, ob und wann wieder Busse fahren.”

Heute können immerhin drei Personen nach Österreich fahren. “Endlich”, freut sich Natalia. Vor drei Monaten sollten die drei schon einmal mit einem großen Bus bis nach Deutschland fahren. Die ungarischen Grenzbehörden haben sie ohne biometrische Pässe nicht durchreisen lassen. Die drei landeten in einem Lager an der rumänisch-moldawischen Grenze, kehrten in die Ukraine zurück und ließen neue Pässe ausstellen. “Das ist leider kein Einzelfall”, weiß Natalia. Bis Ende 2022 wurden die alten Pässe akzeptiert, dann kamen neue Bestimmungen, die alles schwieriger machten. “Glaubt Ungarn eigentlich, dass in der Ukraine die Behörden nichts anderes zu tun haben, als gültige Pässe durch modernere, gültige Pässe zu ersetzen?”, ärgert sich Natalia. “Die Menschen bleiben nicht mal in Ungarn, die fahren nur durch”, fügt sie hinzu.

Sarkasmus, aus der Not geboren

Für das Team von Be an Angel, also auch für Natalia, bedeutet das Durchreiseverbot meist, dass mitten in der Nacht ein Anruf vom Busfahrer kommt, dass Leute an der Grenze stehen und abgeholt werden müssen. Der Bus fährt schließlich weiter. Und was macht man dann mit den Menschen? “Wir müssen alles alleine regeln. Jemanden zum Abholen auftreiben und die Menschen in ein rumänisches Flüchtlingslager bringen.” Bei den Dreien, die sich jetzt auf den Weg machen, wollte die vom UNHCR betriebene Notunterkunft, dass die Menschen 48 Stunden vorher angemeldet werden. “Vielleicht sollte das Lager sich bei einer Hotelplattform registrieren. Dann kann man vorher zur Sicherheit etwas reservieren”, schlägt Natalia vor. Beißender Sarkasmus, aus der Not geboren.

Natalia und der Autor - ab und zu darf und muss auch gelacht werden.

Natalia und der Autor – ab und zu darf und muss auch gelacht werden.

(Foto: A. Tölke)

Dabei, so findet sie, ist das nicht mal das Schlimmste. “Als wir noch regelmäßig Busse ab Odessa haben fahren lassen, hatten wir nie genug Platz für alle. Ich musste also auswählen, wer in Sicherheit kommt, medizinisch versorgt wird und wer warten muss. Ich konnte manchmal nächtelang nicht schlafen”, sagt sie.

Natalia hat weiter gemacht. “Es hat mir Kraft gegeben, wenn ein Bus voll war und abgefahren ist. Nach der Ankunft in Sicherheit kamen Nachrichten von den Leuten. Ganz oft Fotos von glücklich strahlenden Kindern. Allein für diese Fotos mache ich weiter.” Neben all dem Helfen und Organisieren: Gibt es Natalia eigentlich noch als Mensch? Ganz privat, mit Sehnsüchten und Bedürfnissen? Sie lacht, das tut sie oft, außer wenn sie nicht redet. Und sie redet unglaublich schnell in einem Englisch, das seine Grenzen hat: “Als der Krieg im Februar die ganze Ukraine betroffen hat, bin ich nach Moldau geflüchtet. Ein Reflex. Nach zwei Wochen habe ich es nicht mehr ausgehalten und bin zurück nach Odessa.” Sie hat in der Stadt am Schwarzen Meer eine eigene und zum Glück abbezahlte Wohnung. Als selbstständige Geschäftsfrau, die ausländische Firmen in Steuerfragen, bei der Einfuhr von Waren und der Buchhaltung betreut, hat sie außerdem das Glück, überall arbeiten zu können. Wenn es denn noch Kunden gäbe. Sie musste ihre Geschäftsaktivitäten völlig neu aufstellen – und hat das auch geschafft.

Ihr Tag muss mehr als 24 Stunden haben, denn neben den Evakuierungen, die sie ehrenamtlich begleitet, hat sie diesen Winter die Auslieferung von gespendeten Generatoren mitkoordiniert. Die ganze Ukraine war durch die russischen Angriffe auf Elektrizitätswerke oft tagelang ohne Licht und Heizung. Besonders der Süden und Donbas waren betroffen. Natalia hat Generatoren und Gaskocher als Spenden erhalten, und über die Schwesterorganisation Friends of Be an Angel sind über 1700 Generatoren über die USA in die Ukraine geliefert worden. Im Süden der Ukraine überwachte sie persönlich die Auslieferung. “Auch da war es extrem schwierig zu entscheiden, welches Krankenhaus, welche Schule einen bekommt”, sagt sie. Ellenlange Listen sind die Folge, jeder Empfänger musste unterzeichnen, dass der Generator nur für den persönlichen Bedarf ist, Weiterverkauf auch dank Registrierungsnummer ausgeschlossen.

Mit Leidenschaft, anders geht’s nicht

Und als ob all das nicht reichen würde, hat Natalia noch weitere Leidenschaften: Sie singt, und zwar “wie Whitney Houston”, findet sie lachend. Außerdem drückt sie auf Papier aus, was sie fühlt. Seit sie 14 Jahre alt ist, schreibt sie. Kurzgeschichten und am liebsten Gedichte. Mindestens einmal im Monat veranstaltet ihr Literaturclub in Odessa eine öffentliche Lesung. Oft trägt Natalia selbst etwas vor. Uns schickt sie eines ihrer Gedichte. “Poesie ist Schönheit, die uns atmen lässt. Selbst wenn uns der Atem stockt”, sagt sie. Mit ihrem Verstand reagiert sie auf den Krieg. Ihr Herz hat der Krieg nicht hart gemacht.

Verzeih, Ukraine/ Ich habe dich nicht immer geschätzt.
Du bist mein geliebtes Heimatland/Und ich habe dich nicht wertgeschätzt.
Entschuldige, dass ich nicht verstanden habe/ Wie reich du an Geist bist.
Ich habe dich nicht immer geliebt/ Aber du warst immer wertvoll!
Entschuldige die zweifelhaften Spötteleien/ Dass ich dich als “verschieden” angesehen habe.
Aber nirgendwo zu leben, nicht einmal ein bisschen/ Das habe ich nie im Leben gewollt!
Die Menschen hier sind die besten, weißt du/ Würde ist hier im Blut verwurzelt!
Du nimmst mich auf wie eine Mutter /Wenn ich verloren bin.
Mit dir sind wir dieselbe Familie/ Obwohl wir nicht einmal ähnlich sind.
Für dich steht der Mensch an erster Stelle/ Wir sind für dich Gottes Geschöpfe!
Du bist sanft, weise und frei/ Du bist ein Beispiel für Freiheit und Unabhängigkeit!
Ich wähle dich freiwillig für immer/ Ich möchte kein anderes Schicksal!
Nur deine Wälder und Bergwiesen/ Nur das Schwarze Meer, die Karpaten!
Ich werde nirgend ein solches Land finden/ Dich wollen wir nicht tauschen!

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