Hand aufs Herz – wir wollen alle immer älter werden. Wir wollen Spaß haben und gesund sein. Wir wollen nachholen, was wir versäumt haben und Fehler wiedergutmachen. Vielleicht sogar einen Neustart, mit allem, was wir nun bereits wissen. Würden Sie sich Zeit kaufen, wenn Sie es könnten? Auch, wenn Sie damit einen anderen schädigen? “Paradise” setzt sich damit filmisch auseinander.
Momentan läuft ein Film, “Paradise” heißt er, und er ist einer der erfolgreichsten Filme dieses Jahr auf Netflix. Man kann ihn sich zum Beispiel wegen Iris Berben anschauen und denken: “Mein Gott, was sieht die Frau klasse aus, auch mit schlohweißem Haar”. Ihre Rollenfigur selbst ist davon gar nicht so angetan, sie wäre lieber jünger, würde einfach gern noch länger leben. Sich Zeit zurückholen. Die Handlung soll an dieser Stelle gar nicht verraten werden, nur so viel: Es geht um Lebenszeit gegen Geld. Es geht darum, dass in nicht allzu ferner Zukunft eine Methode zur Übertragung der Lebenszeit von einer Person auf eine andere die Welt für immer verändern könnte und ein Biotech-Startup damit zu einem milliardenschweren Pharmakonzern würde.
Elena und Max, eigentlich ein Traumpaar.
(Foto: Netflix)
Der Zuschauer sieht in “Paradise” einem Paar, Elena und Max, bei seinem perfekten Leben zu, das unerwartet mit Versicherungsansprüchen konfrontiert wird, die es nicht bezahlen kann – und alles ändert sich schlagartig. Elena, die – etwas leichtfertig – eine Art “Zeithypothek” von 40 Jahren auf ihre viel zu teure Wohnung aufgenommen hat, soll nun zahlen. Mit Zeit, die ihr ähnlich einer Blutspende abgenommen werden soll, um die Schulden zu begleichen. Der gemeinsamen Zukunft von einem auf den anderen Tag beraubt, stehen beide vor den Trümmern ihres Lebens. Und Max, der für das Biotech-Unternehmen arbeitet, versucht alles, um Elenas verlorene Jahre zurückzuholen.
Würden Sie sich Zeit kaufen, wenn Sie könnten? Auch dann, wenn Sie wüssten, dass diese Zeit jemand anderem weggenommen wird? Eine Frage der Moral, oder? Und des Vermögens. Oder, auf der anderen Seite, der Not. Denn welches Leben ist lebenswert? Welches Leben sollte verlängert werden, welches nicht? Wer kann sich Zeit leisten – also, wer kann es sich leisten, sie zu kaufen, und wer braucht seine Zeit eh nicht? Und wie realistisch ist eine Zeitspende von Mensch zu Mensch? Altersforscher Dr. Frank Berner vom Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) sagt ntv.de dazu, dass es die Übertragung von Lebenszeit von einem Menschen zu einem anderen, wie im Film dargestellt, zwar niemals geben wird, aber “irgendwann wird es vielleicht Methoden geben, mit denen man das Leben eines Menschen um einige Jahre verlängern kann, die sich aber nur sehr reiche Menschen leisten können.” Das alles habe jedoch seine Grenzen, denn auch Multimilliardäre wie Marc Zuckerberg, Jeff Bezos oder Elon Musk, die großzügig in Anti-Aging-Startups investieren, werden nicht unsterblich sein.
Geboren, um zu sterben?

Elena und Max, sie 40 Jahre später. Immer noch ein Traumpaar?
(Foto: Netflix)
Die Fragen, die der Film stellt, gehen ans Eingemachte: Zu sehen ist ein Flüchtlingscamp, wie es Hunderte momentan auf der Welt gibt, in dem Max, der ein “Zeitmanager” bei dem Unternehmen ist, das seiner Frau jetzt an den Kragen will, jungen Geflüchteten Zeit abknöpfen will. Sagen wir 15 Jahre; für einen 18-jährigen Geflüchteten ein Klacks, vor allem, wenn er seiner Familie damit ein besseres Leben verschaffen kann, oder? Der Lohn ist fantastisch, die Familie könnte ein neues Leben starten und dem Lager entkommen. Als 18-Jähriger kommen einem schließlich 30-Jährige schon uralt vor, wer mag sich da Gedanken machen, ob er nun 70 wird oder doch 85? Das ist beides unvorstellbar weit weg.
Aber ist es unvorstellbar weit weg, dass so etwas überhaupt möglich ist? Und wann geht das los mit dem Altwerden? Altersforscher Berner räumt ein, es werde daran gearbeitet, aus Stammzellen Organe zu züchten: “Organspenden von Mensch zu Mensch gibt es ja schon, allerdings nur in medizinischen Notfällen.” Wenn die Medizin sich aber so weit fortentwickelt, dass eine Organtransplantation von Mensch zu Mensch kein riskanter Eingriff mehr wäre, könnte es manchen Menschen doch in den Sinn kommen, sich auf diese Weise körperlich zu verjüngen, etwa mit einem jüngeren Herzen, oder? “Das hieße, wenn dafür genug Geld geboten würde, würde es vielleicht Menschen geben, die in größter Not ihr junges Herz gegen ein älteres Herz eintauschen”, gibt der Mediziner zu bedenken, “auch, wenn ihnen unter brutalem Zwang keine andere Wahl bleibt”.
Wann fängt man denn an, alt zu werden? Das Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns in Köln schreibt auf seiner Website: “Typische Anzeichen des Alterns, wie Falten oder nachlassende Leistungsfähigkeit, können schon mit 20 Jahren auftreten.” Von da an geht’s also bergab. Ist das nicht deprimierend? Nicht für Thomas Langer, den Geschäftsführenden Direktor des Instituts. “Deprimierend? Nein”, sagt der 59 Jahre alte Biologe. Klar, auch er würde sich manchmal wünschen, noch mal 30 zu sein. “Alles andere wäre auch nicht menschlich. Aber ich sehe das nicht so einseitig negativ. Natürlich wird man als älterer Mensch keinen 100-Meter-Sprint mehr gewinnen, weil einfach die körperlichen Voraussetzungen dafür nicht mehr da sind. Aber dafür gibt es anderes, was wichtig ist. Man gewinnt etwa an Erfahrung und Gelassenheit.”
Frank Berner findet, dass selbst der Ruhestand kein verlässlicher Hinweis mehr ist: “Nur weil jemand im Ruhestand ist, ist sie oder er nicht unbedingt alt im herkömmlichen Sinne. Es gibt Leute, bei denen man sich wundert, wieso die schon in Rente sind.” Irgendwann kommen dann aber doch die ersten körperlichen Einschränkungen, vielleicht eine Vergesslichkeit, eine Demenz oder eine schwere Krankheit – die Altersheime sind voll mit gut situierten Menschen, denen ihr ganzes Geld nur noch dazu nützt, ihre sehr teure Pflege bezahlen zu können, gesunder Lebenswandel hin oder her.
“Ey Alter – wer oder was bist du?”

Huch? Wie sieht denn der Uli Wickert aus?
Aber möchte man deswegen ein Grönlandhai sein? Der kann immerhin unfassbare 400 Jahre alt werden. Die Natur hat den unterschiedlichen Lebewesen eben verschieden viele Jahre zugedacht – sie wird ihre Gründe haben. Altwerden geht heute so: Entweder sehen wir, wie in der Werbung, sehr aktive, gesunde ältere Leute, die den Ruhestand auskosten, wandern und auf Weltreise gehen. Oder wir sehen, wenn es um Pflege geht, das gebrechliche Alter: einsame, hochbetagte Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind. “Jede dieser Lebenssituationen gibt es auch in der Realität, aber dazwischen gibt es eben viele andere Lebenssituationen”, räumt Berner ein, “Alter lässt sich nicht über einen Kamm scheren! Die Lebensphase Alter erstreckt sich ja oft über 20 oder 30 Jahre, da stecken mehrere völlig unterschiedliche Lebensphasen drin, die bei verschiedenen Personen auch sehr unterschiedlich aussehen können. Der simple Begriff ‘Alter’ kann diese großen Unterschiede gar nicht mehr alle zusammenfassen.”
Die langlebigsten Landsäugetiere findet man übrigens doch bei den Menschen. Den Altersrekord hält die Französin Jeanne Louise Calment, die am 4. August 1997 im Alter von 122 Jahren und 164 Tagen starb, weiß das Max-Planck-Institut. Viele Forschende sehen demnach ein Alter von etwa 120 Jahren als natürliche Obergrenze für den Menschen an. Und doch: Länger leben zu können – das wünschen sich viele Menschen. Ein Mittel zur Lebensverlängerung wäre eine Goldgrube. Entsprechend hohe Summen werden in die Forschung gesteckt – mit bisher eher zu vernachlässigenden Erfolgen. Zudem bedeutet es auch nicht alles, ein paar Jahre mehr zu gewinnen: Gesund älter zu werden, das ist das Ziel. Viele Forschungsprojekte widmen sich daher der Vermeidung, Früherkennung und Behandlung altersbedingter Erkrankungen wie Demenz, Parkinson und Krebs. “Als Max-Planck-Institut versuchen wir, die Mechanismen des Alterns zu verstehen”, betont Langer – auch wenn er den Prozess nicht stoppen kann.
Substanzen wie das Diabetesmittel Metformin werden derzeit als möglicherweise lebensverlängernd diskutiert. Eine weitere potenzielle “Wundersubstanz” könnte Spermidin sein, das von Natur aus in vielen Lebensmitteln vorkommt. Auch Taurin könnte vielleicht eine Art Lebenselixier sein – häufig ist bisher jedoch nicht bekannt, wie genau die vermeintlichen Wunderstoffe im Körper wirken – und was für Schäden sie bei langfristiger Einnahme womöglich anrichten.
Doch zurück zum Thema des Films “Paradise”: Können wir uns bald Zeit kaufen? Eher nicht, aber wir können etwas tun, um den eigenen Alterungsprozess zu verlangsamen: Sport treiben und gesund essen, ausreichend schlafen, nicht rauchen und wenig Alkohol trinken, Sozialkontakte pflegen und chronischen Stress vermeiden. Mit einem gesunden Lebensstil können Männer und Frauen mittleren Alters im Durchschnitt mehr als 20 Jahre länger leben als mit einem sehr schädlichen.
Dass es irgendwann gelingen könnte, dem Menschen Unsterblichkeit zu sichern, glaubt Langer vom Max-Planck-Institut persönlich nicht und packt diesen Gedanken in die Schublade “Fiction und Fantasy”. Wann würden wir denn eigentlich stehen bleiben wollen? Welches Alter wäre das beste, um “ewig” zu existieren? 20, 40, 80? Müssten wir uns für viel Wissen oder weniger Falten entscheiden? Aktuell Geborene könnten laut James W. Vaupel, Direktor des Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock, immerhin 103 Jahre alt werden, zumindest jedes zweite Kind, das momentan geboren wird.
Stellen wir fest: Der Traum vom sehr langen Leben ist keine reine Utopie, er ist Gegenstand intensiver Forschung. Ob man aber im Alter noch gesund und geistig fit ist, hängt zum Teil von den Genen, vor allem aber von der Einkommensklasse und vom Bildungsgrad ab. Auch vom Milieu, in dem man sich bewegt, und vom Lebensstil, den man führt, sagt Altersforscher Dr. Frank Berner vom Deutschen Zentrum für Altersfragen. Die Gruppe mit dem höchsten Einkommen hat im Vergleich zu der Gruppe mit dem geringsten Einkommen durchschnittlich eine um mehrere Jahre höhere Lebenserwartung: Acht Jahre mehr bei den Männern und vier Jahre mehr bei den Frauen. Auch beim Altern gilt also leider: Money makes the world go ’round. Und was aus Max und Elena wird, können Sie sich ja auf Netflix ansehen, wenn Sie mögen.