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Irina Pletnyova, Bürgermeisterin in der Ukraine

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Krieg ist Männersache. Schon immer gewesen. So auch in der Ukraine. Ein männlicher Diktator mit einer männlichen Armee greift ein Land an und in der Ukraine müssen – zumeist – Männer, Helden (gar nicht ironisch gemeint) an die Front, um sich zu wehren, um ihr Land verteidigen. Das ist die eine Seite.

Auf der anderen Seite die Heldinnen, vor allem in den Großstädten, die täglich von Luftangriffen bedroht sind. Die Kinder haben, die lernen wollen, in Schulen und Kindergärten gehen – sofern möglich. Die Frauen haben oftmals Jobs, dennoch mit einem sinkenden Einkommen zu hantieren und eine Inflationsrate bis zu 26,6 Prozent zu verstoffwechseln. Sie haben einen Winter mit ständig unterbrochener Stromversorgung hinter sich gebracht – teilweise, wie in Odessa, bis zu drei Tagen ohne Licht, Heizung und warmem Wasser – und sie bangen täglich um das Leben ihrer Männer und ihrer Lieben. Von ihrem eigenen ganz zu schweigen.

Diese grundlegenden Existenzfragen werden in der Begegnung oft nicht sichtbar: Im Alltag in den ukrainischen Städten sieht man top-gestylte Frauen, von Parfüm umweht, mit manikürten Fingernägeln. Man sieht die alten Damen in Pelzen genau wie die Straßenkehrerinnen. Und, ja, auch das, man sieht Armut. Der Hausmüll in Odessa wird in Containern auf der Straße gesammelt. Und er wird beinahe im Minutentakt durchwühlt. Oft von Frauen, denen man eben nicht ansieht, wie arm sie sind. Betteln ist für Frauen grundsätzlich ein No-Go. Selten, sehr selten und egal ob in Lviv, Kyiv, Uman oder Saporischschja, halten Frauen einem die Hand entgegen, um mit ein paar Griwna etwas Essen kaufen zu können.

Es sind aber die Frauen in der Ukraine, die das Land am Laufen halten: Sie übernehmen im Krankenhaus die Schichten ihrer männlichen Kollegen, die an der Front sind. Sie initiieren Hilfsorganisationen für die Binnenflüchtlinge. Sie machen “Business” in den Firmen, in denen sie die Lücken der abwesenden männlichen Kollegen schließen. Vier der Frauen möchten wir ihnen als Stellvertreterinnen für die Frauen der Ukraine vorstellen. Die erste ist Iryna Pletnyova.

Ortstermin bei einer Bürgermeisterin

Pletnyova (M.) mit Anya Verkhovskaya von “Friends of Be an Angel” und Andreas Toelke.

(Foto: privat)

Anya Verkhovskaya, Vorstand der Hilfsorganisation “Friends of Be an Angel”, besucht die Bürgermeisterin von Uman in der Ukraine. Seit März 2022 unterstützt der Verein den Ort. Was seitdem passiert ist, berichtet Iryna Pletnyova. Im November 2021 wurde Pletnyova zur Bürgermeisterin von Uman gewählt, als Mitglied einer kleinen, nur auf lokaler Ebene aktiven Partei und als eine der wenigen Frauen in der Ukraine mit diesem Posten.

Dann begann der flächendeckende Angriffskrieg Russlands. Am 28. April 2022 schlugen Raketen in Uman ein und zehn Wohngebäude waren betroffen. Ein Familienvater ging nachts in die Küche seiner Wohnung. Eine Rakete schlug in das Haus ein. Als er die Küchentür öffnete, war der Rest der Wohnung weg. Er stand vor einem Abgrund. Die Leichen seiner Familie wurden nie gefunden. “Es gibt keinen Ort in der gesamten Ukraine, an dem man sicher ist. Es kann jederzeit passieren”, sagt Pletnyova. Wir treffen sie in ihrem Büro. Aus dem Fenster sieht man Kinder zwischen Wasserfontänen herumspringen. Die Sonne scheint – es wirkt friedlich. Eine trügerische Idylle.

“Die Kinder stammen aus Frontgebieten und sind nach Uman geflüchtet”, erklärt die Bürgermeisterin. In den ersten Monaten nach Russlands brutaler Großinvasion der Ukraine suchten etwa 127.000 Binnenvertriebene in der Stadt Uman vorübergehend Schutz vor dem Gemetzel. “Schon einen oder zwei Tage nach ihrer Ankunft konnten die Kinder Kindergärten besuchen”, so Pletnyova. Die meisten Menschen, die nach Uman kamen, blieben dort nicht lange. Die Bürgermeisterin sagt: “In der Regel hatten sie nur das, was sie am Leib trugen”.

Uman, auf halber Strecke zwischen Kyiv und Odessa, hat über 80.000 Einwohner, blickt auf eine 3000 Jahre alte Geschichte zurück und war 2022 in den Medien präsent. Rabbi Nachman von Brazlaw hat hier sein Grab. Jedes Jahr, so auch letztes, kurz nachdem Raketen in Uman eingeschlagen sind, pilgerten orthodoxe Juden zum Neujahrsfest an sein Grab. 20.000 Gläubige kamen nach Uman. “Eine der Kernaussagen von Rabbi Nachman ist aktueller denn je: Auch ein Mensch, der im Bösen versinkt, kann durch Reue zum Schöpfer zurückfinden”, erklärt die Bürgermeisterin, die übrigens nicht jüdisch ist. Ihre Herausforderung zur Pilgerzeit: Wie kann wenigstens ansatzweise für Sicherheit gesorgt werden? “Einen völligen Schutz kann es nicht geben”, so Pletnyova. Wir haben im Rahmen unserer Möglichkeiten Bunker und Schutzräume ausgewiesen, eng mit der jüdischen Community in Uman zusammengearbeitet und ein Sicherheitskonzept erarbeitet. Das wurde den Pilgern vermittelt.”

Unsichtbarkeit von Frauen in Führungspositionen

Einerseits ist es großartig, eine Art Normalität in Kriegszeiten zu leben, wie eben jene traditionelle Pilgerfahrt. Andererseits ist die Belastung für Uman natürlich enorm. Aber auch das haben die Bürgermeisterin und ihr Team bewältigt. Wie auch die Herausforderung, die Behörden der Gemeinde zu reformieren. Dass die Ukraine ein Korruptionsproblem hat, ist eine Binsenweisheit. Pletnyova hat nach ihrem Amtsantritt die Verwaltung ihrer Stadt untersuchen lassen. “Wir mussten uns von einigen Mitarbeitern kurzfristig trennen”, formuliert sie diplomatisch. Ihre Aktivität gegen Korruption ist übrigens nicht einmalig: Der Bürgermeister von Mikolajiv hat die Stadt vier Tage abriegeln lassen, nachdem die intensiven Recherchen der Antikorruptionsbehörde eine Beweislast erbracht hatten, mit der Verhaftungen bei bestechlichen Beamten rechtsstaatlich und transparent durchgeführt werden konnten. Die Liste solcher Ereignisse während des Kriegs ist lang und betrifft die ganze Ukraine. “Wir sind auf einem guten Weg”, findet Pletnyova. Der Weg der Bürgermeisterin ist nicht nur gut. Er ist außergewöhnlich und verdient mehr Beachtung – er steht für die Sichtbarkeit von Frauen in Führungspositionen.

So hat Pletnyova nach dem Angriff auf Uman sämtliche Partnerstädte alarmiert, von denen es acht gibt. Unter anderem Spremberg/Grdok in der Lausitz. Ganz prominent auf der Webseite der Stadt steht: “Mit Stand 11.1.2023 leben in Sozialschutzeinrichtungen 168 der Vertriebenen, und mehr als 100 sind jede Woche auf der Durchreise. Im ‘Haus der Veteranen’ leben 191 Menschen, davon 123 Menschen mit Behinderungen und Rentner, die rund um die Uhr Betreuung benötigen”, so wird die Bürgermeisterin von Uman zitiert. Ein Spendenaufruf mit Wiederholung und Folgen: Unterstützung kam an. “Ähnlich war es bei allen anderen”, sagt Pletnyova. Sie, die agile, zierliche Person, will sich aber nicht nur auf Nothilfe verlassen. “Wir stellen pharmazeutische Artikel her, haben die Produktion nie unterbrochen und liefern bis nach Italien.” Ein kleines Wunder: Durch ihren Einsatz zur Unterstützung der örtlichen Wirtschaft und Aktivierung des Netzwerks ist Uman während des Krieges aus dem Haushaltsdefizit herausgekommen.

Nur gemeinsam

Ausruhen ist für Pletnyova trotzdem keine Option: “Wir stehen durch die Terrorangriffe Russlands mit dem Rücken zur Wand. Alles, was heute sicher oder erfolgreich erscheint, kann morgen in Schutt und Asche liegen. Und die Angriffe auf zivile Einrichtungen führen immer zu Fluchtbewegungen. Für uns in Uman bedeutet das, wir müssen vorbereitet sein – auf jede Eventualität, die uns selbst treffen kann, aber auch auf alles, was die gesamte Ukraine betrifft. Wir sind ein Teil der Ukraine und können diesen erbärmlichen Krieg nur gemeinsam gewinnen.”

Ohne Unterstützung aus dem Westen sind auch ukrainische Frauen wie Pletnyova chancenlos. Und solange der Krieg im Westen auf die Frage der Kosten reduziert wird, ist es unabdingbar, auf die Konsequenzen einer Ukraine unter russischer Besatzung hinzuweisen. Pletnyova tut das mit drastischen Worten: “Fällt die Ukraine, explodieren die Lebensmittelpreise weltweit. Die Ärmsten werden verhungern. Fällt die Ukraine, wird Russland sich bestätigt sehen. Moldau, Lettland, Polen und Ostdeutschland werden die nächsten Ziele sein”, sagt sie. Damit es gar nicht so weit kommt und natürlich auch für ihre eigene Stadt, muss sie weitermachen. Ein Termin mit einer Einrichtung für Kinder mit Behinderungen erfordert Hilfsmittel. Ihr wird schon etwas einfallen.

Nächste Woche geht es an dieser Stelle um die Politikerin Iryna Sulova.

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