Intim und besonders – so sind die Momente, die Alberto Venzago mit seiner Kamera einfängt. 150 seiner perfekten Bilder sind jetzt in der Ausstellung “Alberto Venzago: Stylist der Wirklichkeit” im Wetzlaer Ernst Leitz Museum zu sehen. Die Motive von Voodoo-Zeremonien, japanischen Verbrecherorganisationen und Stars wie Jagger, Warhol & Co. geben Einblick in das vielschichtige Werk des Grenzgängers. 50 Jahre war der Schweizer zwischen Reportage und Stars unterwegs. Während andere Fotografen mit der digitalen Wende die Kamera zur Seite legten, reiste Venzago wie ein Besessener weiter. Er dokumentiert in seinen rauen Reportagen die Wirklichkeit von Menschen auf der ganzen Welt. Dank seiner Ausdauer kommt er allen Porträtierten unglaublich nah und berührt mit den Bildern sein Publikum. Mit ntv.de spracht der charmante 73-Jährige über Kinder, Schönheit, Bilder, die im Kopf bleiben, das Alter, die Mafia und den Schlüssel zu seinem Herzen.
ntv.de: Sie wechseln in Ihrer Fotografie zwischen Reportage und Inszenierung. Ist die Versuchung nicht groß, auch an der Dokumentation herumzuschrauben?
Alberto Venzago: Natürlich prägt das, wenn man wie ich in der Werbung gearbeitet hat und man in der Aussage ganz konkret sein muss. Bei einer Dokumentation denke ich durchaus mal: “Das könnte jetzt aber ein bisschen besser sein.” Aber dass ich daran “rumschraube”, im Sinne von Photoshop – nein. Am Ende muss das Bild wahr und echt sein, das ist die Voraussetzung.
Wann ist ein Foto wahr? Wir leben mit täglicher Bilderüberflutung und wissen aufgrund von KI produzierten Bildern gar nicht mehr, was echt ist. Authentizität ist ein überstrapaziertes Wort.
Ist eigentlich erschreckend, aber ich bin schon etwas älter und betrachte das eher von der Außenseite. Ich sehe das bei meinen Kindern: Die ältere ist ein Topmodel bei Chanel in New York und da ist das Äußere, die Schale wichtig, es geht nur um den Schein. Meine jüngste Tochter ist vierzehn und steht täglich eine Stunde vor dem Spiegel. Tiktok mit den neuen Beauty-Filtern wie “Bold Glamour” ist ihre Realität, für sie stellt sich die Frage nicht: “Authentizität oder Perfektion”? Es ist ihr Universum und ihre Realität.
Was macht das mit Ihnen?
“Die Kinder des Priesters der Heiligen Schlange” aus der Voodoo-Serie, die 2002 in Benin entstand.
(Foto: Alberto Venzago)
Ich frage mich, was habe ich falsch gemacht (lacht). Es gibt keine Echtheit mehr. Echt und wahr sind Begriffe, die vielleicht meinem Jahrgang entsprechen. Ich komme aus der Magnum-Fotojournalismus-Kiste, damals hieß es, das Bild, die Geschichte, das muss wahr sein.
Wie kommen Sie selbst mit der Bilderflut zurecht?
Es ist schwierig, ich habe zehn Jahre lang als Kriegsreporter gearbeitet. Das hat mich sehr mitgenommen, deshalb war ich schon dreimal verheiratet (lacht ironisch). Beziehungen funktionierten nicht mehr. Wenn ich nach Hause kam, brauchte ich viel Zeit, das zu verdauen. Mein fotografisches Leben und mein privates Leben sind sehr miteinander verzahnt. Als der Krieg in der Ukraine losging, hat es mich mächtig gerüttelt. Bei Nachrichten kann ich selbst nicht mehr unterscheiden, was echt ist und was nicht. Ich sehe in verschiedenen, internationalen Nachrichtensendern die gleichen Bilder, die unterschiedlich interpretiert werden. Da bleiben viele Fragezeichen. Ich schaue nur sporadisch und schütze mich durch Lesen.
Sie sagen, das wahre Interesse am Gegenüber ist Ihnen wichtig, warum?
Das Gegenüber merkt sofort, ob das Interesse ernsthaft ist. Es geht nicht darum, irgendeinen Scoop zu landen. Ich möchte mich mit den Leuten auseinandersetzen. Umgekehrt möchte ich nicht nur ein Objekt vor der Kamera haben, es geht auch um meine Befindlichkeiten hinter der Kamera. Wenn es untereinander klickt, dann ist der Weg geebnet, und es gibt vielleicht ein gutes Bild.
Was ist ein gutes Bild?
Da gibt es gewisse formale Aspekte, das Auge muss geführt werden. Ein gutes Bild hat mehrere Schichten. Ich kann den Betrachter über unterschiedliche Schärfen zwingen, dass er bestimmt Dinge sieht. Letztlich bin ich ein Geschichtenerzähler und ich möchte, dass das Bild eine Geschichte erzählt.

Alberto Venzago hat Spaß am Wechselspiel zwischen “genommenen und gemachten Bildern”. Hier ein Selbstporträt.
(Foto: Alberto Venzago)
Auf einem Ihrer Selbstporträts tragen sie eine Rüschenbluse, Sonnenbrille und Spazierstock – das hat was von einem Rockstar. Im Zoom-Gespräch jetzt sitzen Sie ganz existenzialistisch im schwarzen Rolli. Haben Sie Spaß an der Inszenierung?
Ich habe lange Zeit jedes Jahr ein Bild mit meiner Familie gemacht. Teil der Inszenierung war, dass sich jeder kleiden sollte, wie er wollte. Aus so einer Serie von vor vier Jahren stammt das Foto. Ich mag das Überraschende. Und auch im Rüschenhemd bin es immer noch ich.
Sie versuchen die Geheimnisse der japanischen Yakuza, eine Art Verbrechersyndikat, oder des Voodoo-Zaubers zu beleuchten. Was hat Sie tiefer beeindruckt?
Das kann ich gar nicht sagen. Vom Dunklen und Schwarzen bin ich magisch angezogen. Besonders von diesen Kulthandlungen, vielleicht hat das auch mit meiner Geschichte als Ex-Hardcore-Katholik zu tun. Mir haben bei beiden Themen die Traditionen und diese Demut vor dem Übersinnlichen gefallen. Beim Voodoo ist man in einer Welt, die nicht so konkret ist, wie unsere hier. Sowohl im Voodoo als auch bei den Yakuza finden Zeremonien im Dunklen und nachts statt, mit Menschen, die selbst im Schatten stehen.
Was hat Sie an den Yakuza, die ja etwas Mafiaartiges haben, interessiert?

Ungewöhnlich nah – normalerweise zeigt sich ein japanischer Yakuza eher im Maßanzug.
(Foto: Alberto Venzago)
Ich hatte in Tokio bei einem Job immer diese verdunkelten Mercedes-Limousinen gesehen, dazu diese Typen mit ihren Ray-Ban-Brillen und maßgeschneiderten Anzügen. Das hat mich fasziniert. Gleichzeitig hat man mich gewarnt: “Das ist eine sadistische Welt, voller Machos.” Aber das kennen wir ja aus der Kindheit – wenn etwas verboten ist, ist der Reiz doch gleich viel größer. Ich komme aus einem sehr behüteten Intellektuellen-Haushalt und fand es spannend, der Brutalität dieser anderen Welt ausgesetzt zu sein. Aus meiner Zeit als Kriegsreporter weiß ich, was Macht und Ausbeutung bedeuten können.
Wie lange brauchten Sie, um Zugang zu der verschlossenen, streng hierarchischen Welt der Yakuza zu bekommen?
Es dauerte sechs Monate, bis ich den ersten Kontakt hatte. Das war ein Riesending und ich habe die Chance nur bekommen, weil ich ein Ausländer war. Dann dauerte es weitere sechs Monate, bis ich überhaupt mal meine Kamera dabeihaben konnte. Irgendwann gab es eine große Zeremonie, bei der ein Oyabun, eine Führungsfigur, drei Tage lang den 1000 Bandenmitgliedern moralische Belehrungen einimpfte. Ich stand mit zwei Kameras hinter dem Yakuza-Boss. Alle haben das gesehen, das war mein “Freifahrtschein”. Und der Moment, in dem ich “angenommen” wurde.
Haben Sie keine Angst, wenn heute Ihr Handy klingelt, dass ein Mitglied des Syndikats sich im Nachhinein über die veröffentlichen Fotos beschweren könnte?

Dieses sehr persönliche Porträt von Tina Turner entstand in ihrem Haus in der Schweiz beim Meditieren. Sie hatte zunächst nicht bemerkt, dass ein Foto gemacht wurde.
(Foto: Alberto Venzago)
(lacht) Nein, das ist inzwischen 25 Jahren her, da gab es noch keine Mobiltelefone. Durch die Voodoo-Geschichte hingegen kriege ich jede Woche Videos von meinem afrikanischen Ziehsohn. Das ist das Großartige an den Reportagen, die Menschen bleiben nicht nur Objekte vor der Kamera, sie gelangen auch in mein Herz. Ich bekomme nicht nur den Schlüssel in ein anderes Universum, sondern auch zum Menschen.
Was reizt Sie dann an den eher kurzen Begegnungen mit Stars?
Nehmen wir Mick Jagger, den habe ich öfter auf der Bühne fotografiert. Ich habe selbst mal klassische Musik studiert und finde diesen Personenkult, den es sonst nur unter Dirigenten gibt, sehr spannend. Ich durfte bei einem geheimen Konzert der Stones in Aberdeen dabei sein und war sehr dicht bei den Musikern. Irgendwie sind die Filme verloren gegangen. Aber richtig gute Bilder sind manchmal die, die nur im Kopf bleiben.
Ihre Porträts sind fast intim nah – wie nah kommen Sie den Stars wirklich?
Mit manchen, wie Tina Turner, bin ich seit langem befreundet. Ein fantastisches Bild von ihr ist beim Meditieren in ihrem Haus entstanden. Sie mochte es gar nicht und fand, dass sie darauf wie tot aussieht. “Woher kannst Du das wissen?”, fragte ich sie. Und obwohl ihr Mann das Foto von ihr auch gut fand, musste ich sie zwei Jahre beknien, es veröffentlichen zu dürfen. Eines Tages stand sie bei mir im Atelier und hat es unterschrieben. Jetzt ist es hier in Wetzlar zu sehen.
Mit Alberto Venzago sprach Juliane Rohr
Die Ausstellung “Alberto Venzago: Stylist der Wirklichkeit” läuft bis zum 14. Mai im Ernst Leitz Museum in Wetzlar.