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“Erzähl mir was vom Einhorn!”

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Sie wollten schon immer mal nach Oslo? Im Hochsommer? Ist sinnvoll, denn dort können Sie mehr, als nur in der Sonne braten: Direkt am Stadtstrand gelegen zeigt das Astrup Fearnley Museet großartige Gegenwartskunst. Zum 30. Jahrestag bekommt der berühmte “Schrei” von Edvard Munch mächtig Konkurrenz.

Überall am Fjord liegen sie herum, verdammt nah an den auf dem Rasen verteilten Skulpturen: Familien, Frauen, Männer, Jung und Alt. Ein Hund faulenzt im Schatten unter den kugelrunden Bronzebusen von Louise Bourgeois, die auf einem Hügel thronen. Die Künstlerin hat sie “Eyes” (Augen) getauft und sie scheinen das lässige Treiben wohlwollend zu betrachten. Es ist Sommer in Oslo und ziemlich heiß. Alle zieht es nach draußen, ans Wasser und an die Spitze der Halbinsel, wo das Astrup Fearnley Museet liegt. Hier beginnt das Kunsterlebnis bereits mit den Skulpturen vor der Tür.

Kunst- und Badegenuss liegen am Astrup Fearnley Museet nebeneinander.

(Foto: Privat)

Abkühlung bietet nicht nur die in der Sonne glitzernde Nordsee, sondern auch das Museum. 19 Jahre lang war es mitten in der Stadt zu finden, bevor es 2012 an diesen wasserumspülten Standort zog. Das Astrup Fearnley Museet ist in Norwegen eines der wichtigsten Häuser für zeitgenössische Kunst. Jetzt macht es sich für die Zukunft fein. 1500 Werke groß ist die Sammlung des 2021 gestorbenen Schiffsmaklers Hans Rasmus Astrup. Offensichtlich hatte er nicht nur beim Kunstkauf einen klaren Blick. “Er sah das Ende kommen und wusste um sein Erbe. Eine seiner letzten Taten war es, ein Strategiepapier zu verfassen, in dem er festlegte, dass die Sammlung und das Programm diverser werden solle”, erzählt Museumsdirektorin Solveig Øvstebø ntv.de beim Gespräch in Oslo.

Hans Rasmus Astrup, 1939 in eine wohlhabende Reederfamilie geboren, blieb selbst kinderlos. Die Kunstwelt war neben Firma und Landsitz, den er von der Mutter übernommen hatte, Familie und Lebensinhalt. Als er sich 1993 den Traum von einem eigenen Museum erfüllen konnte, revolutionierte er damit in seiner Heimatstadt auch den Blick auf zeitgenössische Kunst. Es gab bis dahin kein Museum, das sich radikal dem Zeitgeist widmete. Oslo und Kunst? Damit verbinden Touristen bis heute vor allem Edvard Munch mit einem riesigen Museum und den weltberühmten “Schrei”. Den hatte der Künstler 1893 bis 1910 gleich viermal geschaffen. Das verzerrte, kreischende Gesicht zieht Menschen nach Oslo und ziert weltweit Tassen, Regenschirme und alles, wo Menschen etwas draufdrucken können.

*Kreisch*! In Oslo gibt’s noch mehr als Munch

Leidenschaftlich investierte Astrup seit den 1960er Jahren in Bilder, Skulpturen, Videokunst und sperrige Installationen. Anfangs fokussierte er sich auf norwegische Zeitgenossen, wenig später kamen Werke von amerikanischen, britischen und deutschen Künstlern dazu. Er kaufte, was ihm gefiel. Auch seelenlose “Bling-Bling-Kunst” von Jeff Koons, was ihm Kritik einbrachte. Warum habe er 5,6 Millionen Euro für einen eher banalen Koons bei einer Auktion bezahlt? Fast trotzig antwortete er bei einem seiner seltenen Interviews, dass er so eine Skulptur noch nie gesehen habe. 2001 hatte er den Zuschlag für die Arbeit bekommen und das Exemplar ist immer noch in Oslo beheimatet. Dem Sammler ging es nicht um Investment, er vertraute seinem Gefühl und entschied selbstbewusst.

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Steckte viele, unter anderem Königin Sonja von Norwegen, mit seiner Leidenschaft für Gegenwartskunst an: Hans Rasmus Astrup.

(Foto: Astrup Fearnley Museet)

Was bleibt also, wenn jemand wie Hans Rasmus Astrup geht? Ein Museum mit Strahlkraft. Die Sammlung, seine Firma und Besitztümer wurden in eine Stiftung umgewandelt. Sie verfügt damit über das beachtliche Vermögen von rund 200 Millionen Euro. Es ist sein Kunst-Vermächtnis, das Menschen unendlich begeistern, faszinieren und neugierig machen soll. Der Clou dieses privaten Museums: Die Sammlung wird kontinuierlich ausgebaut.

Im vergangenen Jahr wurden für rund zwei Millionen Euro neue Werke angekauft. Seit 2021 sind insgesamt 52 neue Arbeiten hinzugekommen. Darüber entscheidet ein kleines Gremium, deren Vorsitz Solveig Øvstebø führt: “Ich kann sehr frei agieren.” Aktuell legt sie den Schwerpunkt auf Künstlerinnen und Kunst aus Norwegen. Astrup holte die Kunsthistorikerin aus Chicago zurück. Eigentlich hatte sie die neun Jahre als Kuratorin an der Kunsthalle Renaissance-Society sehr genossen, wollte bleiben. Die Norwegerin sagt, dass der fortwährende Dialog mit dem Sammler sie schließlich aber überzeugt habe.

Spitze, eine Frau!

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Im Entdecker-Museum: Norwegische Kunst trifft auf internationale Kunstgrößen.

(Foto: Tore H. Røyneland)

Sie ist die erste Frau an der Spitze des Museums. Die 50-Jährige ist angetreten, um den kniffligen Balanceakt zwischen gestern, jetzt und morgen zu stemmen. Øvstebø will nicht nur die Vergangenheit der Sammlung zeigen. Sie weiß, dass zeitgenössische Kunst die Gegenwart reflektiert. Die ist komplex, auch weil die Welt immer wieder aus ihrer Achse rutscht. Die Transformation in die Zukunft funktioniert für sie durch Vielfalt. “Wir sind hier in Norwegen und müssen die künstlerischen Stimmen des Landes einbinden.”

Und die haben was zu sagen. Hinter einem sich magisch öffnenden Oval wartet ein lebensgroßes Einhorn. Es liegt auf einem kobaltblauen Teppich in sterilem Ambiente. Es ist nicht nur mystisch aufgeladen, sondern auch ein Symbol für die LGTBQ+-Gemeinschaft. Børre Sæthre, einer der international bekanntesten norwegischen Künstler, hat diese Installation geschaffen. Das Werk ist, obwohl es von 2001 stammt, absolut aktuell.

Die aktuelle Jubiläumsschau heißt “Before Tomorrow” und ist der Blick zurück, bevor es weitergeht. Solveig Øvstebø sortiert, entstaubt und präsentiert die Sammlung luftig und neu. Sie holt aus dem Archiv, was schon vergessen war. “Ich bin überrascht, was sich an wichtigen weiblichen norwegischen Positionen bereits in der Sammlung befindet”, gibt sie zu und beschenkt mit den Fundstücken aktuell die Besucherinnen und Besucher.

Koons und Jackson hinter der Wand

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Michael Jackson und Bubbles – an der Skulptur des amerikanischen Superkünstlers Jeff Koons entzünden sich Diskussionen.

(Foto: Astrup Fearnley Museet)

Doch zurück zu dieser beim Publikum so beliebten Skulptur von Jeff Koons. Es ist immerhin die größte Porzellanfigur der Welt. Und daneben? Da sitzt Michael Jackson mit seinem Affen Bubbles lebensgroß und gülden bemalt auf einem Sockel. Was dem einen zu kitschig ist, mag der andere sehr. Jetzt halten die beiden mit ihren Fans hinter einer neu eingezogenen Wand Hof. Den gesamten Raum teilen sie sich zudem mit norwegischer Kunst, die entdeckt werden will. Eine Installation von Anselm Kiefer hat die Museumschefin einfach ganz weggesperrt. “Dafür werde ich wohl noch Tadel einstecken müssen”, sagt sie lachend. Der Grund dafür ist einfach: Die Bücher können nicht bewegt werden. Sie sind aus Blei, wiegen an die 30 Tonnen und das Gebäude wurde quasi drumherum gebaut.

Der Museumsbau an sich ist schon den Besuch wert, es stammt von Stararchitekt Renzo Piano. Die Lage im Stadtteil Tjuvholmen (deutsch: Diebesinsel) unmittelbar am Wasser reizte ihn besonders. Die gläsernen Dächer hier am Oslofjord schwingen sich über drei Häuser vom Wasser aus wie eine Welle ans Land. Oder soll es ein Segel sein? Die von der Witterung silbergrau gefärbten Holzverkleidungen erinnern durchaus an ein Segelboot. Mit seinem Bau hat Piano gekonnt das Neubauviertel mit dem nahen Fjord verbunden. Dort, wo vor einigen hundert Jahren Diebe hingerichtet wurden, entstand aus einer Hafenbrache mit Beginn des 21. Jahrhunderts ein neues, eher unpersönliches Wohn- und Büroquartier. Inzwischen hat sich der Strand vor und neben dem Museum zu einem beliebten Badespot entwickelt.

Minzbonbons am Strand

In zwei der drei Gebäuden verteilt sich auf knapp 3000 Quadratmetern Kunst, die im besten Fall emotional wirken soll. So wie die Installation des amerikanischen Künstlers Félix González-Torres. Er starb 1996 an Aids. Abertausende blau verpackte Minz-Bonbons liegen direkt vor einem bodentiefen Fenster. Sie scheinen sich über die unbekümmerten Strandbesucher vor dem Museum zu ergießen. Das Publikum im Museum darf von den Schleckereien nehmen. Während der Drops auf der Zunge zergeht und gleichzeitig im Ausstellungsraum weniger und weniger wird, soll er an Vergänglichkeit und Tod erinnern. Wenn von den 130 Kilogramm Zuckerware nichts mehr da ist, wird das Mahnmal neu bestückt.

Hans Rasmus Astrup hat Kunst gesammelt, die in seiner Zeit produziert wurde und relevant war. Das Museum, das seinen Namen trägt und das Zuhause seiner Sammlung ist, wird von Direktorin Solveig Øvstebø programmatisch in die Zukunft geführt. Im Hier und Jetzt produziert sie neue, wegweisende Denkflächen.

How to Oslo

Anreise: Oslo wird von vielen deutschen Flughäfen direkt angeflogen. Mit dem Flytoget Airport Express Zug erreicht man die Innenstadt in knapp 25 Minuten.

Übernachten: Im “The Thief” schläft man fast neben dem Astrup Fearnley Museet. Überall im Haus hängen Kunstwerke, zum Beispiel von Damien Hirst im Frühstücksraum. Alternativ wohnt man mitten in der Stadt im “Hotell Bondeheimen”, das lange Zeit Treffpunkt für Künstler und Schauspieler aus den umliegenden Theatern war.

Essen: Die typische Osloer Küche gibt es nicht, daher sind der Inspiration keine Grenzen gesetzt. Middag heißt hier das Abendessen und Lunch ist der Lunsj. Auf den Lunchkarten stehen oft günstigere, kleinere Gerichte. Der Fisch ist überall frisch und ein Lachs- oder Krabbenbrötchen sollte man sich nicht entgehen lassen. Mit Fjord- und Hafenblick sitzt man in unzähligen Restaurants auf Tjuvholmen.

Die Museen am Fjord: Direkt hinter dem Operahuset mit seinem begehbaren Marmordach ist Det Nye Munchmuseet. In elf Ausstellungsräumen wird auf 13 Stockwerken der norwegische Lieblingsmaler Edvard Munch gefeiert. Ebenfalls am Wasser liegt das vor einem Jahr eröffnete Nye Nasjonalmuseet. In dem Haus werden über 50.000 Exponate gezeigt, unter anderem norwegische Glas- und Porzellankunst, Möbel und Gemälde, darunter auch ein Exemplar von Munchs “Schrei”. Der Bau liegt am Anfang des Stadtteils Tjuvholmen. Am Ende dieser Halbinsel und direkt am Stadtstrand befindet sich das fast bescheiden daherkommende Astrup Fearnley Museet. Man sollte es jedoch nicht unterschätzen, denn es beheimatet eine in Norwegen einzigartige Sammlung zeitgenössischer Kunst und gehört unbedingt auf die To-do-Liste. Die aktuelle Ausstellung “Before Tomorrow” läuft bis zum 8. Oktober (Strandpromenaden 2, 0252 Oslo).

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