Anya Verkhovskaya ist aus der ehemaligen Sowjetunion geflohen, hat in Osteuropa Holocaust-Überlebende interviewt und in den USA ein Unternehmen aufgebaut. Mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Mutter von drei Kindern ihr Leben noch einmal neu gestaltet. Was das mit Steven Spielberg zu tun hat, erzählt sie ntv.de.
März 2022. Der flächendeckende Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat gerade begonnen. Oxana aus dem Evakuierungsteam des Gesundheitsministeriums der Ukraine ist streng, sehr streng. Und präzise – zu Recht. Im Zoom-Gespräch zwischen Kyiv und Mequon, USA, mit Anya Verkhovskaya geht es um Menschen in Psychiatrien an der Kriegsfront. Wie können die Patienten gerettet werden? Die Vertreterin der Ukraine hat die Verantwortung für Menschen, die nur eingeschränkt für sich selbst handeln können. In der Ukraine zu bleiben, ist keine Option. Und dann gibt es diese Frau aus der Nähe von Chicago, die behauptet: Sie schafft es, 24 Personen mit Diagnosen von Schizophrenie oder Depressionen aus dem Kriegsgebiet nach Deutschland zu bringen und angemessen zu versorgen.
Mit Disziplin, Leidenschaft und einem Händchen fürs Organisatorische ist Anya Verkhovskaya unterwegs.
(Foto: Thomas Humphrey)
Ja, sie schafft das. Verkhovskaya ist 1988 aus Russland geflohen, als sie 19 Jahre alt war. Ihre politische Haltung passte den Machthabern nicht. Über ihre eigene, lebensgefährliche Flucht spricht sie in knappen Sätzen: “Das ist Geschichte. Meine Geschichte beeinflusst mein Handeln, aber nicht mein Sein.” Anya Verkhovskaya ist absolut im Hier und Jetzt.
Und wenn das Hier die Tür öffnet und Steven Spielberg steht davor, dann ist das eben so. Steven Spielberg? Ja, richtig gelesen. Zwischen 1994 und 2001 hat sie mit der Hollywood-Ikone zusammengearbeitet. Ihr Job war die Koordination seiner Projekte in Osteuropa und Zentralasien im Rahmen der “Shoah Foundation”. Das Ganze führte zu einem riesigen Netzwerk in über 20 Ländern. Während dieser Zeit wurden die Lebensgeschichten von über 9000 Holocaustüberlebenden, darunter Juden, Roma und Sinti, aufgezeichnet.
Wie viele Stunden hat Verkhovskayas Tag?
Und dann begann ein neues Kapitel: Sie war Produzentin von “Die letzten Tage”, einem Oscar-prämierten Dokumentarfilm, und Co-Produzentin von “Kinder des Abgrunds”, der mit dem “Christopher Award” ausgezeichnet wurde. Neben ihrer Filmarbeit engagierte sie sich in Gremien und Organisationen, darunter dem Beratungsausschuss für neue Einwanderer in New York City. Und irgendwann ging es dann nur noch um sie, die Einwanderer und ihre Kinder und Familien.
Also gründete sie ein Unternehmen. Bei Class Experts Group, LLC ist sie Chefin ihres Unternehmens, das sich auf die Begleitung von Sammelklagen in den USA und im Ausland spezialisiert hat. Verkhovskaya war bei der Gründung ihrer Firma der einzige weibliche Chief Operating Officer in ihrer Branche.
Verkhovskaya war die einzige Frau, die diesen Posten in ihrer Branche innehatte. 2009 wurde sie mit dem prestigeträchtigen Stevie Award für Best Executive-Service Businesses und Best Executive of the Year for Women in Business ausgezeichnet und für den American Business Award nominiert.
Kommen Sie noch mit? Hoffentlich, denn das ist nicht alles: Für die Shoah Foundation verbrachte sie Jahre in der Ukraine. Russland ist aus bekannten Gründen keine Option mehr, und ein Stück “slawische Seele” schlummert immer noch in Anya Verkhovskaya. Sehnsucht nach ein bisschen Melancholie, nach spontanen Umarmungen und tiefen Gesprächen – all das, wofür die USA, ihre neue Heimat, nicht wirklich bekannt sind.

April 2022:Andrej – nach der von Anja Verkhovskaya initierten Evakuierung psychisch Kranker Menschen aus der Ukraine bei der Ankunft in Moldau.
(Foto: privat)
Ihr Herz schlägt also für die Ukraine, und deshalb hat sie im Februar 2022 das gemacht, was sie am besten kann: Ihr altes Netzwerk in der Ukraine reaktiviert – “sozusagen über Nacht”, wie sie sagt. Seitdem ist sie am Telefon, in Zoom-Meetings und am Mailen.
Müssen Babys von der Front evakuiert werden? Anya Verkhovskaya übernimmt das. Gibt es im Winter Angriffe auf die Energieversorgung und sitzen die Menschen ohne Heizung in dunklen Wohnungen, während draußen die Raketen einschlagen? Anya Verkhovskaya organisiert mehr als 1715 Generatoren. Insgesamt hat die zierliche Frau über 4700 Tonnen Hilfsgüter als Spenden aufgetrieben und bis an die Front geliefert. Ihr Tag beginnt, wenn unserer endet. Anya, die in der Nähe von Chicago lebt, muss mit sieben Stunden Zeitunterschied arbeiten. Wann schläft sie? “Im Sitzen am Computer”, sagt sie und lacht.
Weil wir alle wie Anya sind

Spaß muss einfach sein! In der Grundschule in Uman beim Karate-Unterricht für Kinder.
(Foto: privat)
Im Juli 2023 konnte sie endlich sehen, was sie mit ihrer Arbeit erreicht hat. Fast 14 Tage reiste Anya Verkhovskaya durch die Ukraine – von Lviv nach Kyiv, Uman und Irpin. Mit Tränen in den Augen stand sie vor zerbombten Wohnhäusern, hat mit ihrem Team an anderer Stelle dennoch gelacht und intensive Gespräche mit Politikerinnen und Bürgermeistern geführt. “Die Reise hat mich gestärkt”, sagt sie.
Eine andere wichtige Quelle ist Thomas Humphry. Der junge Mann sitzt in Berlin und ist ihr Gesprächspartner. Er koordiniert aus Europa die Zollpapiere und den Transport. “Inzwischen sind es über 35.000 Dokumente”, erzählt Anya Verkhovskaya. Woher ich das alles weiß? Ich war dabei, als Anya und Oxana über die Evakuierung psychisch Kranker sprachen. Als Vertreter von “Be an Angel”. Damals war Anya noch alleine unterwegs und stellte mir später viele Fragen in einem Gespräch zu zweit.

(Foto: friends of Be an Angel)
“Transparenz” war das Stichwort: Wie arbeitet “Be an Angel”? Wie werden die Finanzen abgewickelt? Wie geht man mit den Menschen um, die evakuiert werden? Wer gehört zum Team und welchen Hintergrund haben sie? Nach zwei Wochen offerierte sie: “Wenn ihr das wollt, gründe ich einen Ableger in den USA, “Friends of Be an Angel”, mit dem einzigen Ziel, euch zu unterstützen.” Zu dieser Zeit hatte der Verein bereits ein Büro in Moldau und führte täglich Evakuierungen im Kriegsgebiet durch.
Dank Anya konnte der Verein sich weiterentwickeln. Im Norden über Lviv bringen sie Hilfsgüter in die Ukraine, im Süden organisieren sie Evakuierungen. Das machen sie seit März 2022. Wie sie schlafen? Wie Anya. Im Stuhl. Egal wo. Weil das unser Krieg ist, und weil wir alle ein bisschen wie Anya sind.